Innovationen & verlässliche Rahmenbedingungen als Schlüssel

Gastbeitrag von Dr. Holger Klein, Vorstandsvorsitzender der ZF Group | Artikel aus dem Handelsblatt Journal „Die Zukunft der Automobilindustrie“ vom 25.10.2023

Die Automobilindustrie befindet sich mitten in der größten Transformation ihrer Geschichte. Aber der Wandel bei Technologien und zu Nachhaltigkeit geht weit über unseren Sektor hinaus bis in verschiedenste Bereiche der Gesellschaft. Wie wir uns zukünftig fortbewegen, unsere Wohnungen heizen oder unsere Industriestandorte wettbewerbsfähig aufstellen sind Themen, die derzeit kontrovers diskutiert werden. Kontroverse kann spalten; Kontroverse kann aber auch konstruktiv wirken. Für ZF als Industrieunternehmen wie für uns als Gesellschaft ist zentral, dass Tiefe und Geschwindigkeit des Wandels uns nicht zerreißen, sondern dass wir ihn zu einem industriellen und gesellschaftlichen Erfolg führen.

Wir müssen die Herausforderungen offen benennen und gleichzeitig die Chancen suchen, die der Wandel eröffnet. Das gilt auch für unser Unternehmen, das sich in den letzten 100 Jahren von einem Getriebespezialisten vom Bodensee zu einem weltweit präsenten Technologieunternehmen gewandelt hat, das von Elektromobilität bis zur Windkraft in zentralen Zukunftsfeldern der Nachhaltigkeit aktiv ist. Klimaneutrale Mobilität Wirklichkeit werden zu lassen, ist eine enorme Aufgabe, die Industrie, Entscheidungsträger und Gesellschaft gemeinsam lösen müssen. ZF hat klar definierte Nachhaltigkeitsziele in die Unternehmensstrategie integriert und Maßnahmen zur Umsetzung dieser Ziele ergriffen. Kurz: Wir handeln. Wir arbeiten an nachhaltigeren Lösungen und daran, dass diese auf den Markt, auf die Straße – und damit auch zum Kunden kommen.

Die E-Mobilität – aber auch andere alternative Antriebe – sind unverzichtbar, wenn es darum geht, eine CO2-neutrale Mobilität zu realisieren. Die Geschwindigkeit des chinesischen Marktes (bis zum Ende des Jahres soll die „new energy vehicle“-Zulassungsrate bei gut 40 Prozent liegen) und die Geschwindigkeit der europäischen Regulierung (Stichwort Verbrennerverbot 2035) geben den Takt vor. Beides wird nicht ohne Konsequenzen für europäische Wertschöpfungsketten und auch für manchen bisher erfolgreichen Industriestandort bleiben. Aber nicht höhere Mauern oder De-Coupling werden uns Europäer wettbewerbsfähig machen. Als Zulieferer müssen wir zum einen den Innovations-Hotspot China mit neuen Lösungen bedienen, zum anderen durch konsequente Weiterentwicklung und Innovationen die E-Mobilität in Europa und den übrigen Weltregionen attraktiver und effizienter gestalten.

Neuer E-Motor ohne Magnete
So feierte ZFs neuer magnetfreier E-Motor auf der IAA in München seine Weltpremiere. Für Techniker: Diese Lösung ist eine neuartige Variante fremderregter Synchronmaschinen, deren Magnetfeld innerhalb des Rotors induktiv erzeugt wird. Für Nicht-Techniker: Diese Lösung ist nicht nur ultrakompakt, sondern reduziert auch das Gewicht bei hoher Leistungsdichte. Durch den Verzicht auf Magnete sind für diesen Motor keine Seltenen Erden mehr  notwendig. Kunden, die diesen Antrieb einsetzen, werden unabhängiger. Denn die kostbaren Rohstoffe kommen in vielen Teilen der Welt nicht vor, sind schwierig zu fördern und unterliegen starken Preisschwankungen. Weiterhin entsteht auch bei der Produktion bis zu 50 Prozent weniger CO2 als im Vergleich zur Herstellung von marktüblichen E-Motoren, weil die energieintensive Herstellung von Magneten wegfällt. Der magnetfreie Motor ist ein Beispiel, wie Innovationen von ZF Resilienz und Dekarbonisierung vorantreiben. Genau solche Entwicklungen müssen die Blaupause für die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland sein.

Strategische Neuausrichtung
Ein weiteres Beispiel für eine Neuausrichtung, die sowohl die E-Mobilität als auch Lieferketten stärkt, ist unsere Partnerschaft mit dem US-Unternehmen Wolfspeed bei der Produktion von Siliziumkarbid-Chips. Diese Halbleiter werden in Zukunft bei allen Anwendungen benötigt, in denen Strom transformiert wird. Dazu gehört die E-Mobilität, aber auch bei Windkraftanlagen optimieren die Chips die Leistung. In der E-Mobilität sind sie ein zentraler  Bestandteil für die Leistungselektronik, die im hohen Maße über die Effizienz entscheidet. Wechselrichter auf Siliziumkarbid-Basis verhelfen Elektrofahrzeugen zu mehr Reichweite und kürzeren Ladezeiten – zwei entscheidende Faktoren für die Akzeptanz der E-Mobilität. In der Fabrik im saarländischen Ensdorf werden künftig 200-Millimeter-Wafer produziert. Aus ihnen werden Chips für hocheffiziente Leistungsmodule hergestellt, die im Innovationszentrum von ZF und Wolfspeed in der Metropolregion Nürnberg entwickelt werden. Ein großer Vorteil ist die enge Verzahnung von Entwicklungszentrum und Fabrik: Fortschritte bei den Modulen werden zu Fortschritten beim Chipdesign führen – und umgekehrt. Dadurch wird ZF in Zukunft in der Lage sein, Innovationen für Kunden wesentlich schneller in Serie zu bringen. Für die Unterstützung der Politik bei der Realisierung dieses Projektes, welches zudem einen wichtigen Beitrag zur herausfordernden Standorttransformation leistet, sind wir dankbar.

Gemeinsam für eine CO2-freie Zukunft
Gerade in Zeiten des Wandels sind Partnerschaften und ein starkes Ökosystem wichtig. Daher hat sich ZF 2021 mit mehr als 60 weltweit führenden Unternehmen als Gründungsmitglied der „First Movers Coalition“  FMC) angeschlossen. Die FMC ist eine Partnerschaft zwischen dem Weltwirtschaftsforum und dem Sondergesandten des US-Präsidenten für das Klima. Die Mitglieder der Koalition verpflichten sich, bis zum Jahr 2030 möglichst
viele emissionsfreie Waren und Dienstleistungen zu kaufen, um so die Nachfrage nach kohlenstoffarmen Technologien zu steigern. Bei seinem Beitritt kündigte ZF die Umstellung des Stahleinkaufs an. Mit der im vergangenen Jahr platzierten Stahl-Order bei H2 Green Steel löst ZF sein Versprechen gegenüber der FMC bereits von 2025 an ein. Angenommen, nicht 60, sondern 600 Unternehmen würden diesen Weg beschreiten, so käme die Transformation der Wertschöpfung um ein Vielfaches schneller voran.

Doch ZF setzt nicht nur auf Mobilität, wenn es um die klimafreundliche Zukunft geht. Wir sind auch ein weltweiter Zulieferer für die Windkraft. Seit 1979 hat ZF Wind Power mehr als 80 000 Getriebe für Windturbinen geliefert, die Anlagen mit einer Produktionskapazität von 180 Gigawatt antreiben. Das ist vergleichbar mit der Stromversorgung von mehr als 150 Millionen Haushalten. Damit stammt fast jedes vierte Getriebe von getriebegetriebenen Windkraftanlagen von ZF. Wir sind führend in den Hochleistungssegmenten im Onshore- und Offshore-Windsegment, Marktführer bei kompakten, modularen Getriebeplattformen und haben ein Offshore-Getriebe für den Prototypen einer 15-MegawattWindturbine geliefert. Diese Anlagen werden künftig in Europa, Asien und den USA Strom produzieren und mit einem ZF-Powertrain ausgestattet sein, der im belgischen Lommel hergestellt wird.

Zu den ZF Nachhaltigkeitszielen gehört die vollständige Klimaneutralität bis zum Jahr 2040. Schon zum Ende dieser Dekade wollen wir unsere Scope-1- und Scope-2-Emissionen im Vergleich zum Jahr 2019 um 80 Prozent reduzieren. Bei den Scope-3-Emissionen, also denen, die aus der Nutzung unserer Produkte bei den Kunden und aus der Lieferkette entstehen, streben wir ein Minus von 40 Prozent an. Klar ist aber auch, dass Klimaschutz eine gemeinsame Aufgabe von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ist. Die Schlüssel auf diesem Weg sind Innovationen und verlässliche Rahmenbedingungen für die europäische Industrie. Der Green Deal der Europäischen Kommission gibt die Richtung vor. An Ambition mangelt es nicht; nur: Teilweise fehlt das Bewusstsein für die wichtige Rolle, die die Industrie für das Gelingen der Transformation spielt. Es ist kein Gesetz der Natur, dass Deutschland und Europa in Zeiten des Wandels ein starker Industriestandort bleiben. Europa reguliert, während die USA incentiviert. Selbst in dem vor drei Jahren vorgestellten EU-Recovery-Plan kommt das Wort „green“ 20 Mal vor – „industry“ wird dagegen nur zwei Mal erwähnt. Das ist ein Missverhältnis, wenn wir als starker Industriestandort bestehen wollen. Dass Wirtschaftsminister Robert Habeck das Jahr 2023 zum „Jahr der Industrie“ ausgerufen hat, begrüße ich sehr.  Nun müssen den Worten Taten folgen. Wir brauchen einen neuen Aufbruch: Begriffe wie Wettbewerb und Industrie müssen wieder positiv belegt werden – das ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Statt den Markt auszuhebeln, müssen wir die Kräfte des Marktes für die Nachhaltigkeit mobilisieren. Statt Grenzwerten und Verboten benötigt die Industrie Rahmenbedingungen, die die Suche nach innovativen Lösungen befördern und deren Akzeptanz unterstützen. Der Ausbau der Ladeinfrastruktur, die passgenaue Ausbildung an Schulen und Universitäten oder die Verfügbarkeit von Rohstoffen sind Beispiele aus der E-Mobilität. Der Netzausbau, faire Auktionsregeln und die schnelle Ausweisung von Flächen würden der Windkraft zugutekommen. Dazu kommen der Abbau bürokratischer Regeln, wettbewerbsfähige Energiepreise und schnelle Entscheidungen der Verwaltung. Wenn wir den Wandel als Chance begreifen und politische Ambition mit einem unterstützenden Rahmen und Realismus für die Herausforderungen der Transformation verbinden, können wir die Transformation zum Erfolg führen – für Industrie und Gesellschaft. ■

Klimaneutrale Mobilität Wirklichkeit werden zu lassen, ist eine enorme Aufgabe, die Industrie, Entscheidungsträger und Gesellschaft gemeinsam lösen müssen