Die Spannung steigt und die Transformation beschleunigt sich

Gastbeitrag von Dr. Karsten Kroos, CEO, thyssenkrupp Automotive Technology | Artikel aus dem Handelsblatt Journal „Die Zukunft der Automobilindustrie“ vom 25.10.2023

Die IAA Mobility und die Detroit Motor Show haben gerade eindrucksvoll das Interesse an moderner individueller Mobilität untermauert. Die Transformation der Automobilindustrie hin zu elektrifizierten und nachhaltigen Anwendungen hat volle Fahrt aufgenommen. Neue Spieler mit guten innovativen Ideen, attraktiven Produkten und guter Qualität können schnell Marktanteile gewinnen. Im Kern gilt das nicht nur für Fahrzeughersteller, sondern ganz besonders auch für Zulieferer. Zu deren Positionierung im Transformationsprozess äußert sich Dr. Karsten Kroos, CEO, thyssenkrupp Automotive Technology.

Thyssenkrupp Automotive liefert Komponenten, Systeme und Automatisierungslösungen für die Bereiche Fahrwerk, Antrieb und Karosserie. Wir arbeiten als Engineering-Partner und Zulieferer in allen Regionen der Welt eng mit der Automobilindustrie zusammen und beobachten die Marktentwicklungen sehr aufmerksam. Wie also ist die Lage? Vor welchen Herausforderungen stehen wir? Ähnliche Fragen haben wir uns bereits 2008/2009 in der Finanzkrise gestellt. Die Autobestellungen brachen damals massiv ein, erholten sich aber insbesondere wegen der hohen Nachfrage in China wieder relativ schnell.

Wendepunkt Pandemie?
Eine gute Dekade später traf die Corona-Pandemie die Welt. Die Absatz- und Produktionsvolumina wurden schlagartig um etwa zehn Jahre zurückgesetzt. Dazu kamen die Chipkrise, unterbrochene Lieferketten, der  Fachkräftemangel und infolgedessen insgesamt deutlichgestiegene Kosten. Fast alle Unternehmen der Automobilbranche hatten sich auf den Transformationspfad in Richtung CO2-Neutralität gemacht und bereits viel Geld in die Entwicklung neuer oder weiterentwickelter Produkte gesteckt. Inzwischen haben gestiegene Kapitalkosten und eine inflationsbedingt zurückgehende Kaufkraft die Volumina perspektivisch in einigen Regionen kleiner werden lassen als ursprünglich geplant. Hinzu kommt, dass einige Fahrzeughersteller bewusst auf Volumen verzichten und auf Premium für Premium-Margen setzen. Für sie scheinen Skaleneffekte an Bedeutung verloren zu haben. Für uns Zulieferer sind sie nach wie vor überlebenswichtig. Paradigmenwechsel gibt es nicht nur beim Volumen bzw. Marktanteilsansatz. Grundsätzlich werden alle Wertschöpfungsstrukturen neu gedacht und gelegentlich zwischen Inhouse und Supply Base neu verteilt. Technologisch ist sicher interessant, dass die Autoarchitekturen zunehmend von der Software und den Batterien her gedacht werden. Damit werden Wertschöpfungsumfänge auch neu priorisiert, denn sie können einen stärkeren Einfluss auf die Differenzierungsmöglichkeiten im Markt haben als die klassischen Hardwarekomponenten.

Zulieferer stehen unter enormem Druck
Für uns Zulieferer bedeutet das Gasfuß und Bremse zugleich. Hier ist nicht nur Kostendisziplin unverzichtbar – das klassische Krisenmanagement muss zur Wahrung von Chancen in disruptiven Zeiten um gezielte Investitionen in Zukunftsthemen ergänzt werden. Genau daran haben wir bei thyssenkrupp Automotive ebenfalls intensiv gearbeitet. Unser Produktportfolio haben wir konsequent an den Themen rund um die Elektromobilität und an erweiterten Funktionen wie dem autonomen Fahren ausgerichtet. Das ist für uns kein Verlassen unserer Kernkompetenz, im Gegenteil: Wir bauen unsere Kernkompetenz mit einem erweiterten Wirkkettenverständnis um die relevanten Zukunftskompetenzen aus. So bringen wir unsere Fähigkeiten, hochpräzise Komponenten in großer Stückzahl in hoher Qualität herzustellen, auf eine funktional erweiterte Ebene, über die wir wettbewerbsdifferenzierende Kriterien ausprägen. Damit sind wir für mehr Marktteilnehmer interessant und letztlich auch für unsere Investoren, da sie ebenfalls in eine nachhaltige Zukunft und nicht in die Vergangenheit investieren wollen. Beim Langfristcharakter der Investitionen ins Automobilzuliefergeschäft kommt es darauf an, dass die Vertragspartner sich auf ausgewogene Chancen-Risken-Szenarien verständigen. Wenn ein Zulieferer sein verfügbares Kapital und die besten Mitarbeitenden auf neue und verbesserte Produkte für die Autohersteller fokussiert, muss er auch mal zum „Gain-Sharing“ und nicht nur zum „Pain-Sharing“ – je nach Lage der Dinge – eingeladen werden. Ansonsten ziehen sich immer mehr Investoren aus diesem Bereich zurück. thyssenkrupp kennt sich mit Langstreckenrennen aus. Wir sind seit Jahrzehnten in diesem Segment tätig. Wir verfügen über einen starken Markenkern, Expertenwissen, Kompetenzen entlang der gesamten Wertschöpfungskette vom Werkstoff bis zur Software für Steer-by-Wire-Lösungen und vor allem engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Das Auto neu erfinden
Fahrzeuge werden auch in Zukunft ein physisches Fahrwerk, Stoßdämpfer und eine physische Lenkung brauchen. Vielleicht gibt es dann zwischen Lenkrad und Lenkgetriebe keine mechanische Verbindung mehr, die Steuerung funktioniert ggf. über die Elektronik, wie im Flugzeug. Im Bereich Steer-by-Wire und bei den intelligenten Fahrwerksfunktionen sind wir bereits stark positioniert, etwa mit der Marke Bilstein. Auch im Karosseriebau sehen wir uns dank unseres Fokus auf Leichtbau gut aufgestellt. Unsere große Transformationsaufgabe finden wir im Bereich Verbrennungsmotorkomponenten, der rund 20 Prozent unseres Umsatzes ausmacht. Als führender Produzent von Nockenwellen und Zylinderkopfhauben Modulen sind wir durch das Verbrenner-Aus unausweichlich mit schrumpfenden Volumina konfrontiert. Doch da sich diese Entwicklung lange abzeichnet, sind wir bereits vor einer Dekade mit unserer Rotorwelle gestartet: Sie war unser erstes Produkt für E-Mobilität und wird inzwischen immer stärker nachgefragt. Bei den Antriebskomponenten haben wir uns entschlossen, im Rennen zu bleiben, anders als manche Wettbewerber. Wir können eine langjährige Expertise vorweisen, und unsere Marktposition ist ausgesprochen gut. So wird uns dieser Bereich helfen, unsere Transformation zu finanzieren. Wir folgen einem klaren Plan und entwickeln darüber hinaus bereits ganz neue Produkte für die E-Mobilität.

Innovationsbereitschaft und Partnerschaften sind gefordert
Was wir jetzt machen können: Intelligentere Abläufe einführen und Entwicklungszeiten verkürzen. Und was wir machen müssen, um Kosten und Qualität zu optimieren: Standards entwickeln und konsequent einfordern. Das können wir alleine tun; geeigneten Partnerschaften, die so etwas beschleunigen, stehen wir offen gegenüber.

Zwei existenzielle gemeinschaftliche Aufgaben stehen an. Erstens muss die Zulieferbranche Frühwarnsysteme einrichten, um künftig Disruptionen der Lieferketten zu vermeiden: Supply-Chain-Optimierung und strategisches Lieferkettenmanagement müssen zu Kernkompetenzen werden. Und zweitens müssen wir gemeinsam mit den Herstellern neue Mechanismen finden, um starke Kostensteigerungen bei Löhnen und Energie sowie bei Material- und Lieferkosten zusammen zu schultern. Wir sind weiter entschlossen, die Hersteller mit unserer Innovationskraft zu unterstützen und gemeinsam die Automobilität von morgen zu gestalten. Individuelle
Mobilität bleibt ein Wachstumsfeld mit einem enormen Potenzial in Sachen Nachhaltigkeit. Hier ist thyssenkrupp Automotive zukunftsgerichtet aufgestellt. ■

Für uns Zulieferer bedeutet der Transformationsprozess der Autohersteller Gasfuß und Bremse zugleich.