Stillstand droht – wie die Energiewende jetzt noch zu retten ist

Stillstand droht – wie die Energiewende jetzt noch zu retten ist

Artikel aus dem Handelsblatt Journal „ENERGIEWIRTSCHAFT“ vom 18.01.2022

Josef Hasler, Vorstandsvorsitzender der N-ERGIE in Nürnberg, sieht die Energiewende auf ernste Schwierigkeiten zulaufen – und das aus einem Grund, der derzeit weder in der Politik noch in der öffentlichen Diskussion wahrgenommen wird: Engpässe im Verteilnetz drohen die Einspeisung Erneuerbarer Energien deutlich auszubremsen. In seinem Gastbeitrag erläutert Hasler, welche schnellen Weichenstellungen gefragt sind, und warum es jetzt besonders auf ganzheitliches Denken ankommt.

Die neue Ampel-Regierung scheint Klimaschutz und Energiewende endlich zur Chefsache zu erheben. Ihr neuer Koalitionsvertrag liest sich an vielen Stellen durchaus vielversprechend und ist in jedem Fall deutlich ambitionierter als alles, was sich die vorangegangenen Regierungen vorgenommen hatten. Gut so! Und dennoch: Ich habe große Zweifel daran, dass die hochgesteckten Ziele auch erreicht werden. Vielmehr befürchte ich sogar, dass die Umsetzung krachend scheitern wird. Das liegt daran, dass seit Jahren bestehende, grundlegende Schwachstellen leider nicht angepackt werden. Damit meine ich vor allem das nach wie vor vorherrschende zentralistische Denken mit dem verharrenden Fokus auf den „großen Stromautobahnen“. Damit meine ich aber auch das isolierte Denken in einzelnen Sektoren. Beides verkennt das multidimensionale und dezentrale Wesen der Energiewende. Die Auswirkungen dieser fehlgeleiteten Steuerung können wir bereits heute in Ansätzen sehen.

Bayerisches Stromverteilnetz vor fundamentaler Herausforderung
Für den bayerischen Raum kann ich feststellen: Das Stromnetz ist hier – vor allem bedingt durch den hohen Anteil an Photovoltaik und die resultierende „Mittagsspitze“ – mancherorts bereits an der Aufnahmegrenze. Und das obwohl allein die drei großen bayerischen Netzbetreiber, die bislang rund 480.000 EEG-Anlagen integriert haben, in den letzten zehn Jahren bereits rund sieben Milliarden Euro aufgewendet und ein starkes Fundament gelegt haben. Der aktuelle Modus Operandi, nach dem Netzbetreiber beim Ausbau als letztes Kettenglied vor vollendete Tatsachen gestellt werden und dennoch jedwede Anlage zügig ans Netz bringen, stößt an seine Grenzen. Die neue Dynamik, die wir gerade beim Ausbau großer Freiflächenanlagen verzeichnen, droht schon bald ernstzunehmende Engpässe nach sich zu ziehen. Erneuerbare werden zwar ausgebaut, aber nicht komplett genutzt werden können. Denn: Weder werden die aktuellen Rahmenbedingungen für Netzbetreiber dieser neuen Ausbaudynamik gerecht, noch lässt sich das Verteilnetz schnell (!) derart stark ausbauen, wie es nötig wäre, um den zusätzlichen PV-Strom in der Spitze aufzunehmen. Man denke hier allein an die äußerst langwierigen Planungs- und Genehmigungsverfahren, Bearbeitungsstau in der öffentlichen Verwaltung sowie an die äußerst überschaubaren Ressourcen für die Ausführung derartiger technischer Bauten.

Schnelle Weichenstellungen, um den EE-Ausbau am Laufen zu halten
Die Herausforderungen für das Stromverteilnetz als Rückgrat der Energiewende sind derart fundamental, dass es ein ganzes Bündel an Weichenstellungen benötigt, um sie zu bewältigen. Am wichtigsten ist dabei, den Ausbaubedarf auf ein volks- und energiewirtschaftlich sinnvolles Maß zu begrenzen, das beherrschbar und realistisch umzusetzen bleibt. Das kann auf drei unterschiedlichen Wegen erreicht werden. Erstens sollten der Ausbau von Erneuerbaren und die Netzausbauplanung möglichst synchron laufen. Das bedeutet zum Beispiel, dass EEG-Anlagen vor allem dort errichtet werden, wo das Netz die Strommengen am besten aufnehmen kann. Zweitens sollte insbesondere der weitere Zubau von PVAnlagen zukünftig so angereizt werden, dass er möglichst lastnah vonstattengeht. Die unfassbar großen bislang ungenutzten Dachflächenpotenziale in Ballungsräumen sind ein gutes Beispiel für einen schnell umsetzbaren Ausbaupfad. An dritter Stelle – aber nicht minder bedeutend – ist der zunehmende Einsatz von Flexibilitäten zu nennen. Netzdienlich genutzte Batteriespeicher in unmittelbarer räumlicher Nähe zu großen Freiflächenanlagen können – wenn sie entsprechend dimensioniert werden – die „Mittagsspitze“ abfedern. Sie helfen damit ganz entscheidend dabei, das System zu stabilisieren und grüne Strommengen bis in die Nachtstunden hinein nutzbar zu machen.

Dringend benötigt: eine Regulierung, die Klimaneutralität möglich macht
Dass es darüber hinaus – zusätzlich zu den Faktoren, die den Netzausbau begrenzen – auch gravierend bessere Rahmenbedingungen für das Verteilnetz benötigt, versteht sich fast von selbst. Denn völlig unstrittig werden in jedem Fall gewaltige Investitionen und Kraftanstrengungen auf die Betreiber zukommen. Die schnelleren Genehmigungsverfahren, die durch die neue Bundesregierung in Aussicht gestellt wurden, dürfen deshalb keinesfalls ein leeres Versprechen bleiben. Gleichzeitig benötigen wir für diese so besondere Herausforderung auch besondere Finanzmittel. Kurz: eine Regulierung, die Klimaneutralität möglich macht. Gegenläufige und kontraproduktive Entscheidungen wie die kürzlich durch die Bundesnetzagentur verkündete Kürzung der Netzrenditen müssen aufgefangen werden – etwa mit Investitionszuschüssen.

Energiewende ganzheitlich aufsetzen – alle Netze nutzen
Ganz entscheidend wird zudem ein vernetzter und ganzheitlicher Ansatz sein – ein systemisches Verständnis der Energiewende. Um den drohenden Stau aufzulösen und weiterhin ein leistungsstarkes und sicheres Stromverteilnetz zu gewährleisten, genügt es nämlich nicht, ausschließlich das Stromnetz selbst in den Blick zu nehmen. Insbesondere müssen Maßnahmen zur Umsetzung der Wärmewende neu bewertet werden. So kann etwa die Antwort auf die riesige Herausforderung, den Gebäudesektor zu dekarbonisieren, nicht durchgängig „Wärmepumpe“ lauten. Für Neubau im Umland ist das eine gute Option. Flächendeckend und gerade im hochverdichteten urbanen Gebäudebestand würde dies aber zu einer deutlichen – zusätzlichen – Belastung des Stromnetzes führen, die es angesichts der gerade geschilderten Umstände tunlichst zu vermeiden gilt. Der Ansatz, die Sektoren Strom und Wärme zu verbinden, ist richtig. Er funktioniert aber nur, wenn man den Faktor Netz in die Rechnung mit einbezieht. Hier zeigt sich, dass es deutlich zielführendere Alternativen zu „All Electric“ gibt – nämlich grüne Energie über alle bestehenden, hervorragend ausgebauten Infrastrukturen hinweg zu verteilen. Packen wir die Dekarbonisierung doch ganzheitlich an und gestalten zunächst die Versorgung der 20 Millionen Haushalte am Erdgasnetz sowie der 6 Millionen Haushalte an den Fernwärmenetzen klimafreundlicher – durch reine Substitution des Brennstoffs. Speisen wir die Wärmenetze zunehmend aus grünen Quellen und hocheffizienten KWK-Anlagen. Mischen wir einen rasch steigenden Anteil grüner Gase (z.B. Wasserstoff) in die Erdgasnetze und gehen wir damit einen riesigen und schnellen Schritt in Richtung Klimaneutralität. Für mich bildet dies den einzig gangbaren, weil realistischen Weg, um den CO2 Ausstoß im nötigen Umfang und innerhalb des politisch abgesteckten Zeitrahmens umzusetzen. Also: Augen auf die Energienetze! Wenden wir mit einem energischen Gegensteuern sowie einem ganzheitlichen Ansatz den Flaschenhals ab, der sich für die Energiewende abzeichnet.

Die Herausforderungen für das Stromverteilnetz als Rückgrat der Energiewende sind derart fundamental, dass es ein ganzes Bündel an Weichenstellungen benötigt, um sie zu bewältigen.

Josef HaslerJosef Hasler
Vorstandsvorsitzender
N-ERGIE

Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „ENERGIEWIRTSCHAFT“ erschienen.

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