Reflexionen zur Zukunft der städtischen Logistik

Prof. Dr. Gernot Liedtke

Gastbeitrag von Prof. Dr. Gernot Liedtke, Leiter Verkehrsmärkte und Verkehrsangebote, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR) | Artikel aus dem Handelsblatt Journal „Die Zukunft der Automobilindustrie“ vom 25.10.2023

Die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft hat in den vergangenen Dekaden zu zahlreichen Veränderungen und Umbrüchen geführt. Besonders augenfällig werden diese Entwicklungen im Bereich des E-Commerce und den damit verbundenen Paketlieferungen an Haushalte. Auf der Waren-Nachfrageseite haben sich neue Lebensstile und Konsummuster entwickelt, während die Angebotsseite durch die Entstehung plattformbasierter Geschäftsmodelle im Einzelhandel und in der Logistik geprägt ist. In allen Bereichen der städtischen Versorgung mit Gütern nimmt die Anzahl der Sendungen stetig zu. Auch werden Lieferungen immer kleinteiliger. Darüber hinaus steigen die  Ansprüche der Warenempfänger an Liefergeschwindigkeit und zeitliche Präzision der Anlieferung.

Die letzte Meile
In den staubelasteten hochverdichteten Metropolregionen wird durch die gewachsenen Ansprüche der Kunden die sogenannte letzte Meile – die Zustellung von Sendungen bei Haushalten und Geschäftskunden – immer mehr zum Engpass der Lieferkette. Die letzte Meile verursacht heute den größten Teil der Logistikkosten, sie benötigt viel Personal und verursacht einen hohen Druck auf die Beschäftigten (insbesondere: Stress durch Zeit- und  Leistungsdruck) und das Verkehrssystem (insbesondere: Gefährdungssituationen und Mikrostaus durch regelwidriges Halten). Um dem erhöhten Bedarf von Last-Mile-Lieferungen zu begegnen, stieg die Zahl der Zustellfahrzeuge drastisch an. In geeigneten Aufgabenbereichen werden heute auch Lastenfahrräder eingesetzt. Zwar sind diese agiler und ermöglichen durch mehrfache Auslieferungswellen eine kleinteilige, schnelle und zeitpräzise Belieferung, doch auch sie beseitigen das grundsätzliche Problem der hohen Personalkosten für diese Lieferfahrten nicht. Zur Lösung dieser Probleme wird nach echten, grundlegenden Innovationen für den Lieferverkehr der Zukunft gesucht. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass mit luft- und landbasierten Drohnen, Straßenbahnen, Binnenschiffen und Seilbahnen experimentiert wird, während die Automobilindustrie die Realisierung von elektrifizierten und automatisierten Fahrzeugen vorantreibt.

Welche Innovationen bieten langfristige Lösungen?
Trotz des wachsenden Problemdrucks, den interessanten Experimenten mit innovativen Konzepten und einer jahrzehntelangen Forschung zur Stadtlogistik finden diese neuen Konzepte kaum in den Markt. Ein wesentlicher Grund hierfür ist, dass die Zustellunternehmen in einem starken Preiswettbewerb stehen und in einem fragmentierten Markt mit vergleichsweise geringen Margen zu kämpfen haben. Dadurch sind den unternehmerischen Möglichkeiten zur Investition in risikobehaftete innovative Ansätze enge finanzielle Grenzen gesetzt. Aufgrund der geringen Finanzkraft der Unternehmen werden häufig die betroffenen Kommunen aufgefordert, Immobilien und/oder Logistikflächen zu Dumpingpreisen zum Zwecke des Güterumschlags auf kleine Fahrzeuge zur Verfügung zu stellen, obwohl es gegebenenfalls bessere alternative Nutzungen wie etwa den Wohnungsbau gibt. Vor diesem Hintergrund entsteht für die Stadtlogistik der Zukunft die fundamentale Frage, welcher der folgenden Innovationspfade für die letzte Meile als eine langfristige Lösung zu erwarten ist:

Elektromobilität: Die Elektrifizierung der Fahrzeugflotte hat das Potenzial, sowohl die Emissionen von lokalen Schadstoffen und Treibhausgasen zu senken, als auch die Lärmbelästigung einzuschränken. Für den intensiven Stopp-and-Go-Verkehr in Städten und aufgrund der vielen Halte eignet sich Batterieelektrik mit Rekuperation beim Bremsen perfekt. Die Probleme des (i) Fahrermangels, (ii) der Befriedigung der steigenden Wünsche der Belieferten und (iii) des „Dichtestress“ können diese Fahrzeuge nicht lösen.

Automatisierung: Zwar können mit autonomen Fahrzeugen der Fahrermangel behoben und die (Personal-) Kosten gesenkt werden, doch es ist keine Entlastung der staubelasteten Verkehrsinfrastruktur zu erwarten. Zudem ginge die Automatisierung bei der Belieferung von Privathaushalten mit Herausforderungen hinsichtlich der Übergabe der Pakete einher. Es stellt sich schlicht die Frage, wie der Weg von der Bordsteinkante bis an die Haus- bzw. Wohnungstüre zurückgelegt werden kann.

Luftdrohnen: Aus heutiger Sicht kann es in gewissen Anwendungsfällen energetisch günstiger sein, Transporte per Luftdrohne statt per Lieferfahrzeug abzuwickeln. Der Ansatz von Drohnen, Pakete einzeln statt gebündelt zu transportieren, würde in einer Stadt jedoch zu einem enormen Anstieg an Transportbewegungen führen, die dann in der Luft stattfänden. Dies erhöhte das Risiko von Havarien und den Lärmpegel auf ein mutmaßlich inakzeptables Niveau.

Landdrohnen (Lieferroboter): Diese haben ein Ladevolumen im und unterhalb des Bereichs von Lastenrädern. Sie haben die gleichen Vorteile wie Lastenräder hinsichtlich Flexibilität, Agilität und Lieferpräzision. Wie Lastenräder auch, führen sie jedoch zu einem Anstieg der Fahrzeugbewegungen in den Straßen, in denen sie ausliefern – schließlich sind diese Fahrzeuge bereits nach wenigen Zustellungen geleert und müssen zurück zum Konsolidierungspunkt, um neue Pakete aufzunehmen, bevor sie wieder ins Ausliefergebiet zurückkehren. Die sichere Übergabe der Ware an die Empfänger ist hier ebenfalls eine gewisse Herausforderung; ihr ließe sich allerdings durch einen digital zu entriegelnden „Safe“ oder Transferpunkte (mit dem Gehweg höhengleiche Paketboxen) begegnen.

Straßenbahn/S-Bahn/ Wasserwege: Obwohl diese Verkehrswege bzw. Verkehrsmittel als ökologisch verträglich gelten, können sie aufgrund ihrer jeweils geringen Netzdichte nicht das zentrale Problem lösen: Das Ansteuern von Haushalten entlang aller Straßen und die Übergabe von Sendungen.

Fazit: Momentan gibt es noch nicht „die“ Lösung für die letzte Meile, die den genannten Herausforderungen durch Digitalisierung, Lieferfragmentierung, Dichtestress und Ressourcenengpässe gerecht wird. Am ehesten scheinen Lieferkonzepte geeignet, in denen Pakete in automatisierten Umschlagspunkten in immer kleinere Fahrzeuge umgeladen werden und dann erst nah am Zustellort in Minifahrzeugen landen.

Bausteine für die Zukunft urbaner Logistik
Zumindest kurzfristig können die Probleme der städtischen Logistik nicht durch rein technische Innovationen gelöst werden. Als Alternative bietet sich eine Umgestaltung der Organisation urbaner Logistik an. Leise Elektrofahrzeuge ermöglichen beispielsweise eine Ausweitung der Nachtbelieferung des Handels, wodurch die Verkehrsinfrastruktur durch die Verschiebung von Fahrten in verkehrsschwache Zeiten entlastet werden kann. Die Schaffung von urbanen Sammel- und Verteilzentren, die Einrichtung von Micro-Hubs und der Aufbau von dezentralen Warenübergabesystemen wie Paketstationen können hierbei einen wichtigen Baustein darstellen. Die Digitalisierung ermöglicht zudem eine bessere Vernetzung der Logistikdienstleister und den Einbezug von nur temporär zur Lieferung von Paketen genutzten Transportkapazitäten von Taxis und Privatpersonen. Sofern man auf die Forderung verzichtet, dass der Großteil der Pakete an der Haustür zugestellt werden soll, eröffnen sich neue Spielräume: Das Netz an Paketstationen könnte dichter werden, und Paketstationen müssen dann nicht mehr an autofreundlichen bzw.  verkehrsgünstigen Orten (Supermarktparkplatz, Bahnhof ) positioniert werden – sie stehen einfach an der Straße in der Nähe der Kunden. Autonome Fahrzeuge, wie das U-Shift des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt e.V. – könnten nachts kosteneffizient und energieeffizient gefüllte Paketstationen ausfahren und leere Paketstationen zurücknehmen. Hierzu muss der Verkehrsraum – und allgemein der öffentliche Raum – neuaufgeteilt und gestaltet werden. Diese Beispiele zeigen, dass für eine Transformation der urbanen Logistik eine intensive Zusammenarbeit zwischen Kommunen, Logistikanbietern und weiteren Akteuren, etwa den Eigentümern potentieller Logistik-Standorte und -Flächen, erforderlich ist. ■

Der Verkehrsraum – und allgemein der öffentliche Raum – muss neu aufgeteilt und gestaltet werden.

Vielen Dank an meine Co-Autoren Dr.-Ing. habil. Stephan Müller und Klaus Jäkel für ihre Unterstützung bei der Erarbeitung des Textes.