Neue Mobilitätskonzepte verändern unsere Lebensformen

Der urbane Raum ist ein Nährboden für Veränderungen. Dort werden neue Geschäftsmodelle für Mobilitätsangebote und Technologien wie autonomes Fahren zuerst getestet, pilotiert und eingeführt. Sind solche Entwicklungen in der Lage, unsere Art zu wohnen, zu arbeiten, einzukaufen und – last but not least – mobil zu sein, grundlegend zu verändern?

von Dr. Irene Feige & Dr. Thomas Pöck

Unterhält man sich heute mit Experten aus dem Umfeld der Stadt- und Verkehrsplanung, so scheint die aktuell drängendste Herausforderung für Städte in Bezug auf Mobilität die Luftqualität zu sein.

Dies spiegelt auch die aktuelle politische Diskussion in der Europäischen Union, aber auch in China wider. Aufgrund möglicher technischer Verbesserungen wie der großfl ächigen Elektrifi zierung von Fahrzeugen, aber auch durch Investitionen in den öff entlichen Personennahverkehr sowie den Radverkehr, wird diese Herausforderung jedoch zunehmend in den Hintergrund treten.

Auch saubere Städte stehen vor Verkehrskollaps

Kurz- bis mittelfristig werden Städte deutlich sauberer, aber nach wie vor von massivem Platzmangel geplagt sein. „Sauber“ bedeutet noch nicht weniger Fahrzeuge. Das Gegenteil wäre ebenfalls denkbar.

Ein Lösungsansatz zur Entlastung urbaner Räume könnte in der noch aktiveren Bewirtschaftung von städtischen Verkehrsfl ächen liegen. Dies betrifft nicht nur Parkraumkonzepte. Diskutiert wird zum Beispiel die Verlegung von Versorgungsfahrten für den Einzelhandel in die Nachtstunden. Ebenso könnten Entsorgungsfahrten wie die Müllabfuhr während verkehrsarmer Zeiten stattfi nden. Allerdings müssten diese Verkehre weitgehend lärmfrei erfolgen, um von der Bevölkerung akzeptiert zu werden.

Wichtige Beiträge für die Lösung des Platzproblems werden auch Stadtplaner und -manager leisten. Singapur beispielsweise hat sich unter ihrem Einfluss in den vergangenen Jahren zu einem Vorreiter für neue Mobilitätskonzepte entwickelt. Ein sehr interessanter Ansatz zur Entlastung des städtischen Raums vom Verkehr ist die Unterscheidung in die Verkehrszonen „Above Earth“ und „Below Earth“. Verkehr nach unserem heutigen Verständnis findet im Zukunftsbild von Singapur nur noch unterirdisch statt. Above Earth soll zu einem Lebensraum werden, der im Wesentlichen frei von Verkehr nach unserem heutigen Verständnis ist.

Mittelfristig bleibt es eng

Spannend und facettenreich sind Diskussionen über neue Mobilitätslösungen und ihre Integration in bestehende Konzepte. Ein Beispiel sind Flotten aus autonom fahrenden und nach Bedarf buchbaren Fahrzeugen. Sie können sowohl Car-Sharing- und Taxidienste als auch den privaten PKW-Besitz nachhaltig beeinflussen.

Mittelfristig gehen die meisten Experten allerdings davon aus, dass autonom fahrende On-Demand-Flotten als Zusatzangebote verstanden werden. Für die Phase des Parallelbetriebs von autonomem und menschlich gelenktem Verkehr wird keine Entlastung der urbanen Räume erwartet. Im Gegenteil: Nach Meinung diverser Wissenschaftler besteht die Gefahr, dass der Dichtestress auf den Straßen eher noch zunimmt. Dies kann sich langfristig ändern.

Abgesehen von neuen individuellen Verkehrsformen erwarten die Verkehrs- und Stadtplaner auch Veränderungen des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Während schienengebundene Verkehrsmittel aufgrund ihrer großen Kapazitäten unverzichtbar sind für die Personenbeförderung innerhalb der Städte sowie als Verbindung zu Randgebieten, gehen die Experten von einer Veränderung im Busverkehr aus. Hier wird eine Individualisierung insofern erwartet, dass Busse künftig einem bedarfsinduzierten Fahrplan folgen. Kunden werden per App ihre Stand- und Zielorte bekanntgeben. Der Bus wird dann die beste Route wählen, um diese anfahren zu können. Anderenfalls könnten Busangebote durch Angebote von On-Demand-Flottenbetreibern abgelöst werden. Züge und Busse werden ebenfalls fahrerlos unterwegs sein. Hinzu kommt eine noch stärkere Verknüpfung diverser Mobilitätsmöglichkeiten zu individuellen Angeboten inklusive Leihfahrrädern und -PKW.

Autonom Fahren wird attraktiv

Entlastung wird langfristig einerseits erreicht, sobald autonom fahrende Fahrzeuge eigenständig die jeweils effizienteste Route wählen und Fahrzeugabstände verringert werden können – auch ohne Reduzierung des Fahrzeugbestands. Und andererseits, wenn Fahrer die Vorteile des nicht Selbstfahrens erkennen. Dies kann zu einer geringeren Fahrzeugzahl in Städten führen, weil verstärkt Flottenlösungen nachgefragt werden. Die Situation beeinfl usst zudem ein leistungsstarker ÖPNV.

Verkehrs- und Stadtplaner erwarten folgende Entwicklungen:

  • Private Premiumfahrzeuge mit unschlagbarer Individualität, Sauberkeit und einzigartiger Customer Experience behalten ihren Platz im Stadtverkehr.
  • Autonome Flotten werden Kunden von anderen Modalen gewinnen.
  • Unverändert attraktiv werden urbane schienengebundene Mobilitätsmöglichkeiten sein. Dies vor allem aufgrund ihrer hohen Transportleistung.
  • Busse behalten ihre Bedeutung im Stadtverkehr – wenn es gelingt, ihre Leistung beispielsweise in Form von bedarfsinduzierten Routen zu individualisieren.
  • Verkehrsunternehmen werden mit neuen Leistungsangeboten versuchen, das Mobilitätsverhalten von Konsumenten zu verändern und mehr Kunden zu gewinnen.
  • Städte werden neue Regeln zur Steuerung des Verkehrs aufstellen.
  • Viele Kunden werden ihre Verkehrsmittelwahl auch vom jeweiligen Preis abhängig machen.

Die Diskussion zeigt, dass der Trend zur Urbanisierung als ungebrochen beurteilt wird. Konsens ist jedoch auch, dass es sich künftig lohnen könnte, stärker auf gegenläufige Entwicklungen zu achten.

Gegenszenario: Entvölkerung der Städte

Gerade auch die Möglichkeiten, die autonom fahrende Fahrzeuge für Berufspendler bieten, machen deutlich, dass von überall aus gearbeitet werden kann. Warum also überhaupt noch häufi ger als notwendig ins Büro fahren? Arbeiten an einem selbst gewählten Ort gehört aktuell zu den meistgeäußerten Wünschen von Arbeitnehmern. Technische Veränderungen machen die Arbeit von zuhause oder unterwegs in vielen Berufen einfach.

Unternehmen wiederum könnten künftig finanziell und flächenmäßig günstigere Standorte wählen, die außerhalb von Städten liegen. Warum sollten sie die hohen Mieten beziehungsweise Immobilienpreise in Ballungsgebieten bezahlen, wenn die zentrale Lage von ihren Arbeitnehmern kaum noch genutzt wird? Und warum sollten Menschen noch in Städten wohnen und die entsprechend hohen Mieten oder Eigenheimpreise bezahlen, wenn sie kaum noch die räumliche Nähe zu ihrem Arbeitgeber benötigen?

Gleichzeitig kann eine lange Pendelzeit in Kauf genommen werden, wenn einerseits nur selten gependelt werden muss und/oder andererseits die Fahrzeit bereits für Arbeitsaufgaben genutzt werden kann.

Eine ähnliche Entwicklung ist heute schon im Bereich des Einzelhandels zu beobachten. Online Shopping ersetzt zunehmend das physische Einkaufen, die Bequemlichkeit die damit einhergeht passt in unseren heutigen von Komfort und Effi zienz geprägtem Lebensstil.

Was bedeuten diese Entwicklungen für den Begegnungsraum Stadt in Zukunft?

Hier eröffnet sich ein äußerst interessantes Feld für Stadt- und Verkehrsplaner, einer – eventuellen – Verödung der Städte entgegen zu wirken und ihnen auch langfristig eine lebenswerte Funktion etwa als Treffpunkt zu geben. Das verkehrliche Platzproblem jedenfalls wäre deutlich entschärft.

Dr. Irene Feige, Leiterin Institut für Mobilitätsforschung ifmo
Dr. Thomas Pöck, Partner, Innovative Management Partner