Kann Luca Pacioli die Mobilitätskonzepte der Zukunft vorhersagen?

Mobilitätskonzepte der Zukunft

Was die Bilanzen über die nächste Dekade verraten

Ein Gastbeitrag von Peter Fuß, Senior Advisory Partner Automotive, EY

Zu Recht ist die Automobilindustrie stolz auf ihre einzigartige, 130-jährige Erfolgsgeschichte – aber es gibt noch weit ältere Institutionen, die wie ein Fels in der Brandung allen Volatilitäten sowie wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen trotzen: etwa die Bilanz mit ihren Aktiva und Passiva.
Wurden Soll und Haben auch nicht von ihm erfunden, so gilt der Italiener Luca Pacioli mit seinem Buch „Summa de Arithmetica Geometria Proportioni et Proportionalita“ von 1494, fast 400 Jahre bevor das erste Auto das Licht der Welt erblickte, als eine Art Urvater von Regeln zur Buchhaltung und damit zur Bilanz.

Welcher Zusammenhang besteht nun zwischen Luca Pacioli und künftigen Mobilitätskonzepten? War Luca Pacioli auch kein italienischer Autodesigner – wenn sein Name auch so klingen mag –, so hat er dennoch dazu beigetragen, dass Geschäftsvorfälle wie die Entwicklung neuer Autos oder auch deren Produktion bzw. Verkauf fortlaufend niedergeschrieben werden, um dann einmal jährlich den Erfolg eines Unternehmens durch eine Bilanzerstellung ermitteln zu können. Heute wird nicht mehr von Bilanzen, sondern von der Berichterstattung der Unternehmen gesprochen, da neben Bilanzen noch andere Rechnungslegungsinstrumente wie eine Gewinn- und Verlustrechnung oder ein Lagebericht in die Betrachtung einbezogen werden.
Stellt diese Art der Berichterstattung ein Abbild der Vergangenheit dar, so stellt sich die Frage, ob Bilanzen auch die Zukunft vorhersagen können – und damit auch Hinweise auf künftige Investitionen in die Entwicklung neuer Autos oder sogar Mobilitätskonzepte gegeben können.
Ein Blick auf die – in Deutschland sehr umfangreiche – Berichterstattung über die Automobilindustrie zeigt: Steigende Absatzzahlen, Rekordmeldungen zur Umsatz- und Gewinnentwicklung sowie angehobene Gewinnprognosen beherrschen aktuell die Schlagzeilen – immer stärker scheint sich die Wahrnehmung dieser deutschen Vorzeigebranche auf Zahlen zu konzentrieren.

Finanzkennzahlen im Fokus der Öffentlichkeit

Die Unternehmen kommen dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit – zumindest in guten Zeiten – sehr gern entgegen und berichten ausführlich über ihre finanzielle Performance. Die Rolle des CFO wird damit immer bedeutender. Der Finanzvorstand muss heute Kosten senken, gleichzeitig die Mittel für Zukunftsinvestitionen und so das Wachstum vorantreiben – und zudem die Investoren bei Laune halten. Er ist der Herr all jener Zahlen, auf die die Öffentlichkeit so aufmerksam blickt.
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass in Zeiten, in denen sich die Produkte der verschiedenen Hersteller hinsichtlich Design und Technik immer weniger unterscheiden, jetzt die Finanzkennzahlen den entscheidenden Unterschied machen.
Zahlen werden also immer wichtiger: Ein „Rekordergebnis“ ist eine klare, einfache Botschaft an den Markt und an die potenziellen Kunden. Premium ist gleich Erfolg – und damit wird gerade für die deutschen Premiumhersteller der Unternehmenserfolg, wie er sich in den Finanzzahlen niederschlägt, zu einem wichtigen Bestandteil der Markenführung.

Berichterstattung über rote Zahlen, über Gewinn- oder Umsatzeinbrüche und Absatzrückgänge hingegen signalisieren Misserfolg und sind damit brandgefährlich. Insofern werden die Unternehmen – und somit vor allem auch die CFOs – zu Getriebenen, zu Opfern ihres eigenen Erfolgs. Jeder Erfolg muss im nächsten Quartal von einem noch eindrucksvolleren Erfolg übertrumpft werden, sonst droht Enttäuschung.
Keine Frage: Die transparente Kommunikation solcher KPIs (Key Performance Indicators) – ob Umsatz, Absatz, Gewinn oder Beschäftigung – wird immer wichtiger. Aber es kann auch ein Zuviel an Transparenz geben – nicht ohne Grund gab und gibt es immer wieder Stimmen, die den Zwang zur Quartalsberichterstattung kritisch bewerten.

Denn zum einen passen die langen Entwicklungs- und Markteinführungszeiten in der Automobilbranche nicht zum Dreimonatstakt der Berichterstattung. Und zum anderen stellt sich die Frage, ob immer mehr, immer aktuellere Zahlen wirklich noch einen Mehrwert bieten. Finden Anleger in Quartalsberichten und Bilanzen wirklich die Art von Informationen, die sie brauchen, um die Erfolgschancen des Unternehmens beurteilen zu können?
Bilanzen sind ohne Frage wichtig und aussagekräftig. Über den aktuellen Zustand eines Unternehmens verraten sie dem kundigen Leser einiges – aber über seine Zukunft? Da wird es schwierig. Zwar weisen die Unternehmen etwa die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung aus; wie sinnvoll und effizient diese Mittel eingesetzt wurden, verrät aber keine Kapitalflussrechnung und keine GuV.

Sind Bilanzzahlen wichtiger als Technik & Innovationen?

Schließlich bleibt die Frage: Sind Bilanzzahlen wichtiger als die Technik? Als Innovationen? Sicher nicht. Sie können ein Indiz sein, sie zeigen, welche finanziellen Spielräume ein Unternehmen bei Zukunftsinvestitionen hat. Ob es diese richtig nutzt, ist eine ganz andere Frage. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Unternehmen gerade in Krisenzeiten Erstaunliches geleistet haben. Umgekehrt haben sehr erfolgreiche Unternehmen ihre Finanzpolster vielfach gerade nicht für zielführende Investitionen in ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit, in die Weiterentwicklung des Geschäftsmodells oder grundlegende Innovationen genutzt. Stattdessen haben sie sich auf ihren Lorbeeren ausgeruht und neue Trends verschlafen. Insofern könnte der aktuelle finanzielle Erfolg eines Unternehmens, der sich heute in seiner Bilanz widerspiegelt, auch als Indiz für ein potenzielles Risiko in der Zukunft gewertet werden.

Fest steht: Das Geschäftsmodell der Hersteller wandelt sich vom Autobauer zum Mobilitätsdienstleister, neue Wettbewerber drängen auf den Markt, die Kundenbedürfnisse wandeln sich rasant. Womit verdienen also Autohersteller in Zukunft ihr Geld? Führen die heute investierten Milliardensummen in alternative Antriebstechnologien zum Durchbruch oder in die Sackgasse? Das sind die drängendsten Fragen, mit denen sich die Automobilindustrie derzeit beschäftigt. Auf diese Fragen gibt kein Quartals- oder Geschäftsbericht eine Antwort. Somit hat der Italiener Luca Pacioli zwar vor mehr als 400 Jahren wichtige Regeln zur Berichterstattung von Unternehmen niedergeschrieben; die Zukunft können aber weder er noch seine wie auch immer gestalteten Bilanzen vorhersagen.


Über den Autor:

Peter Fuss, EY Peter Fuß ist Senior Advisory Partner für das Ressort Automotive bei EY.
Der leidenschaftliche Automobilist und langjährige Branchenkenner, berät und unterstützt Autohersteller und -zulieferer bei der Entwicklung nachhaltiger Mobiliätskonzepte.
Im Rahmen des Handelsblatt Auto Summit 2015 wird Peter Fuß gemeinsam mit anderen Branchenexperten die Frage diskutieren: „Was verraten die Bilanzen über die nächste Dekade?“