Missachtet die Politik das Verursacherprinzip? – Interview mit Sweelin Heuss (Greenpeace)

Die fehlenden Antworten im Dieselskandal sind für Sweelin Heuss nicht nur aus ökologischer Perspektive ein Problem. Die Greenpeace-Geschäftsführerin sieht durch das zögerliche Vorgehen der Regierung gegen die Automobilkonzerne auch das Vertrauen der Verbraucher in die Politik gefährdet. Im Interview fordert sie die Regierung und die Chefs der Autoindustrie dazu auf, sich endlich ihrer Verantwortung für saubere Luft und die Einhaltung von Grenzwerten zu stellen.

Sweelin Heuss ist die Geschäftsführerin von Greenpeace e.V. Am Vorabend des Handelsblatt Auto-Gipfels, im Dezember 2018 in Wolfsburg, wird sie in einem gemeinsamen Kamingespräch mit Bernhard Mattes (VDA) und Sigmar Gabriel über das Verhalten von Industrie und Politik nach dem Dieselskandal diskutieren.

Interview mit Sweelin Heuss (Greenpeace)

Frau Heuss, die Bundesregierung hat sich jüngst auf ein Maßnahmenpaket für Dieselfahrzeuge geeinigt. Wie bewerten Sie den Kompromissvorschlag der Koalition?

Sweelin Heuss: Das Paket ist ein Dokument des Scheiterns. Auch im vierten Jahr nach Bekanntwerden des Dieselskandals nimmt die Bundesregierung die Hersteller noch immer nicht in die Pflicht für ihre Betrügereien. Inzwischen versteht niemand mehr, warum das Verursacherprinzip nicht für Autobauer gilt. Die Leidtragenden des Abgasbetruges sind die Menschen in den Städten, die hohen Gesundheitsrisiken ausgesetzt sind. Anstatt die manipulierten Autos mit Hardware-Nachrüstungen zu legalisieren, werden die Hersteller mit einem Verkaufsprogramm für Neuwagen belohnt. Die Dieselgipfel werden zu staatlichen Vertriebskonferenzen und schaffen kein Vertrauen darin, dass die Politik die Rechte von Bürgern und Verbrauchern vertritt. Diese Preisnachlässe überhaupt als „Maßnahmen” zu bezeichnen, um Versäumnisse und Betrügereien seitens der Autoindustrie auszugleichen, halte ich für sachlich unangemessen und politisch destabilisierend in Zeiten schwindenden Vertrauens in die Politik.

Sind die Einflussmöglichkeiten der Politik auf die Automobilindustrie in Deutschland zu gering?

Sweelin Heuss: Es fehlt nicht an Einflussmöglichkeiten, sondern am politischen Willen, diese zu nutzen. Die Bundesregierung hätte die Hersteller längst für ihren Abgasbetrug sanktionieren können, um damit ihrer Rolle gerecht zu werden. Die Regierung und die Chefs der Autoindustrie sollten sich ihrer Verantwortung für saubere Luft und die Einhaltung von Grenzwerten stellen. Sie müssen aber auch endlich zugeben, dass Arbeitsplätze langfristig durch das zähe Festhalten am Verbrennungsmotor auf dem Spiel stehen und nicht durch die Unterstützung europäischer CO2-Grenzwerte. Bislang reagieren die Hersteller viel zu langsam auf die rasante Veränderung ihres Geschäfts und gefährden so diese für den deutschen Arbeitsmarkt elementar wichtige Branche.

Mobilität ist ein Muss in modernen Gesellschaften. Wie könnte ein nachhaltiges und zukunftsfähiges Mobilitätskonzept aussehen?

Sweelin Heuss: Diesel und Benziner wird es zuerst in den Innenstädten nicht mehr geben. Deshalb werden Städte die Alternativen wie Bus, Bahn, geteilte E-Fahrzeuge und Radverkehr so ausbauen, dass immer weniger Menschen vom eigenen Auto abhängig sind. Dabei kommt dem Radverkehr eine zentrale Rolle zu. In einer „Stadt der kurzen Wege” sind die Stadtkerne verdichtet, wodurch sich die Weglängen verkürzen und Menschen weniger private Autos brauchen. Auch im ländlichen Raum braucht es eine kompaktere Struktur mit kürzeren Wegen. Jedoch wird es auf dem Lande weiterhin Autos geben, die nicht zu ersetzen sind. Diese werden elektrisch betrieben aus erneuerbaren Energien. Bessere Angebote von Bus und Bahn (erhöhte Taktung, geringere Preise) ersetzen viele Autofahrten. Pendler werden durch Sharing Mobility und Radschnellwege zum Umstieg bewegt. Auch das autonome Fahren birgt für den ländlichen Raum viel Potenzial – zum Beispiel überall dort, wo eine neue Buslinie oder eine höhere Taktung finanziell nicht zu stemmen sind. Automobilhersteller werden sich zukünftig als Mobilitätsdienstleister verstehen. Das Umdenken von „was für Autos bauen wir?” hin zu „wie ermöglichen wir Menschen, mobil zu sein?” birgt für sie bisher nicht genutzte, nachhaltige Potenziale.