Wie sich autofreie Zonen auf den Verkehr auswirken

Caspar Schwietering

Seit Ende August ist die Berliner Friedrichstraße für den Autoverkehr gesperrt. Der Verkehr in den benachbarten Straßen ist dadurch nicht zusammengebrochen. Das zeigen Daten von TomTom. Dennoch wird über das Verkehrsprojekt erbittert gestritten. Ein typischer Fall, meint der Wissenschaftler Stephan Rammler.

Berlins Radfahrer mussten ihren inneren Routenplan in den vergangen Wochen überarbeiten. „Jetzt fahre ich schon Umwege, um durch die Friedrichstraße radeln zu können“, schrieb etwa der Journalist Christian Latz bei Twitter. Seit dem 29. August ist ein 500 Meter langes Stück der zentralen Einkaufsstraße in Mitte für fünf Monate für Fußgänger und Radfahrer reserviert. Die enge Straße ist für Latz und andere deshalb von einer No-Go-Area zum Eldorado mutiert.

Berlin folgt damit einem europaweiten Trend. Denn immer mehr europäische Städte befreien zentrale Straßen vom Autoverkehr. Insbesondere die gut organisierte Fahrrad-Community nimmt diese Veränderungen mit großer Genugtuung zur Kenntnis. Weniger Autos in der Stadt – diese Idee erscheint auch aus klimapolitischer Sicht sinnvoll. Doch wie erfolgreich sind diese begrenzten Straßensperrungen wirklich? Kann der Autoverkehr so reduziert werden oder wird er nur in andere Straßen verlagert?

Wie sich die temporäre Sperrung der Friedrichstraße auf den Auto-Verkehr in Mitte auswirkt, hat nun TomTom exklusiv für Tagesspiegel Background analysiert. Das Datenteam des Navigationsdienstleisters hat sich dafür jeweils zwei Wochen lang angeschaut, auf welchen Routen und mit welcher Reisedauer Autos vor und nach der Sperrung in der Gegend unterwegs waren (vom 3. bis 16. August bzw. vom 7. bis 20. September). Da TomTom nach eigenen Angaben Echtzeitdaten aus etwa jedem siebten in Deutschland fahrenden Auto bekommt, ergibt sich so ein recht genaues Bild der Verkehrsentwicklung.

Die Straßen sind nicht überlastet

Die Ergebnisse entsprächen dabei weitgehend den Erwartungen, sagt Ralf-Peter Schäfer, der das Verkehrsdaten-Team bei TomTom leitet. So seien auf der Friedrichstraße in den Abschnitten vor und nach der Sperrung deutlich weniger Autos unterwegs gewesen, während in den Straßen drum herum ein klar erkennbarer Ausweichverkehr entstanden sei. In der Friedrichstraße ging die
Stichprobengröße (sprich die Anzahl der Autos, die Daten an TomTom liefern) demnach um ein Viertel (In Nord-Süd-Richtung) beziehungsweise um ein Drittel (in Süd-Nord-Richtung) zurück.

Auf den eher kleinen Straßen rund um die Friedrichstraße nahm der Verkehr dagegen deutlich zu und das insbesondere am Wochenende. Hier stieg die Stichprobengröße auf den meisten untersuchten Straßen zwischen 27 und 31 Prozent. Doch trotz dieser Mehrbelastung habe sich der Verkehrsfluss auf den Straßen kaum verschlechtert und die Fahrtzeit nur geringfügig erhöht, sagt Schäfer. „Das Straßennetz hatte hier die entsprechenden Reserven“, so der Experte.

Insgesamt hält Ralf-Peter Schäfer das Experiment „Autofreie Friedrichstraße“ aus verkehrlicher Sicht für geglückt. „Bestimmte zentrale Bereiche wie die Friedrichstraße für Fußgänger und Radfahrer zu reservieren, ist sinnvoll“, meint Schäfer. Der TomTom-Manager empfiehlt sogar, die autofreie Zone in Richtung Gendarmenmarkt auszuweiten. Dadurch könnten die Straßen dort vom Zielverkehr (sprich Parkplatz-Suchenden) entlastet werden. Der Autoverkehr wird laut Schäfer zwar auch weiterhin einige gut ausgebaute Arterien brauchen, doch eine solche zentrale Verbindungsstraße sei die Friedrichstraße nicht.

Die Analyse führt zu unterschiedlichen Reaktionen

Matthias Dittmer von der Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Mobilität der Grünen fühlt sich dadurch bestätigt. „Wir haben immer gesagt, dass sich der Mehrverkehr im Quartier in Grenzen halten wird“, sagt er. Die Friedrichstraße sei wegen der Sackgasse am Halleschen Tor schon lange keine wichtige Durchgangsstraße mehr, meint Dittmer, der mit dem Bündnis „Stadt für Menschen“ zu den Initiatoren der „Autofreien Friedrichstraße“ gehört.

Dagegen sieht Christian Gräff, der CDU-Wirtschaftexperte im Abgeordnetenhaus, in den Daten eine Bestätigung für seinen Eindruck, „dass der Verkehr rund um den Gendarmenmarkt extrem zugenommen hat“. Viele Wirte dort hätten ihm erklärt, dass der viele Verkehr für sie nach Corona zur nächsten großen Belastung geworden sei, sagt Gräff. Der Senat solle das Experiment deshalb sofort beenden.

Der Handel bleibt skeptisch

Auch die Einzelhändler auf der Friedrichstraße fremdeln weiter mit der Fußgängerzone vor ihrer Haustüre. Einige Geschäfte hätten ihm berichtet, dass der Umsatz seit Beginn der Sperrung um zehn Prozent eingebrochen sei, sagt Nils Busch-Petersen, der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Berlin-Brandenburg.

Busch-Petersen kritisiert vor allem die Gestaltung der temporären Fußgängerzone. „Die Baken an den Eingängen vermitteln Passanten das Gefühl, dass sie eine Baustelle betreten. Das lädt nicht zum Flanieren ein.“ Außerdem stört sich der Vertreter der Händler an dem großen Fahrradstreifen in der Mitte der Straße. Für Ältere sei es angesichts der rasenden Fahrradfahrer und fehlenden Ampeln nun schwierig, die Straße zu kreuzen.

Busch-Petersen hält das Vorgehen des Senats insgesamt für dilettantisch. So sei vor Beginn der Sperrung nicht gemessen worden, wie stark die Straße frequentiert wird. „Und damit fehlen nun auch die Vergleichsgrößen.“ Er bemängelt zudem, dass der Senat die IHK und den Handelsverband zunächst nicht eingebunden habe. Inzwischen gab es allerdings bereits mehrere Beteiligungsrunden für Händler vor Ort.

„Ein echter Routinebruch für die Menschen“

Die heftige Debatte um die „Autofreie Friedrichstraße“ hält der Politikwissenschaftler Stephan Rammler für eine typische Reaktion auf einen derartigen Eingriff. „Eine verkehrsberuhigte Zone ist eine Transformation – ein echter Routinebruch für die Menschen“, sagt Rammler, der sich am Berliner Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) mit dem Wandel der Mobilität beschäftigt. Die Politik sei deshalb gut beraten, die Betroffenen gut zu beteiligen. Denn diese würden ihre Bedürfnisse am besten kennen.

Er empfiehlt jedoch auch, die Kritik der Händler nicht überzubewerten. Häufig seien die Umsätze nach einer Verkehrsberuhigung gewachsen und nicht geschrumpft. Er verweist etwa auf die Mariahilfer Straße in Wien. Über Nacht habe die Stadt auf der vielbefahrenen Straße eine Begegnungszone eingerichtet. „Am Anfang sind sich die verschiedenen Verkehrsteilnehmer an die Gurgel gegangen. Doch dann hat es sich organisiert.“

Die Politik müsse deshalb Widerstände teilweise auch aushalten und die Interessen der Stadtbevölkerung sehen. „Die Friedrichstraße war immer ein Ort zum Flanieren“, sagt Rammler. Wenn Autos dort ausgesperrt werden, sei es zudem sinnvoll, viele neue Angebote zu schaffen – etwa durch einen Radweg.

Im Streit um die „Autofreie Friedrichstraße“ erscheint ein Kompromiss zudem zumindest denkbar. „Wir stehen in keiner Fundamentalopposition zu einer Fußgängerzone“, erklärt etwa Nils Busch-Petersen vom Handelsverband. Und Christian Gräff von der CDU gibt sich ebenfalls offen: „Wenn die Friedrichstraße zu einem echten großstädtischen Boulevard umgestaltet wird, können wir uns die Einrichtung einer Fußgängerzone gut vorstellen.“