Bidirektionales Laden: Wie E-Autos zu rollenden Kraftwerken werden

Bidirektionales Laden: Wie E-Autos zu rollenden Kraftwerken werden

Artikel aus dem Handelsblatt Journal „Die Zukunft der Automobilindustrie“ vom 05.12.2022

Die Entwicklung neuer Technologien rund um E-Fahrzeuge läuft nach wie vor auf Hochtouren. Eine Technologie, die derzeit besonders viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist das bidirektionale Laden. Es lässt E-Fahrzeuge gleichzeitig zu Stromspeichern werden. Schon bald sollen bidirektional ladbare E-Fahrzeuge auch auf dem deutschen Markt erhältlich sein. Zur Bedeutung der Technologie, ersten Pilotprojekten und Herausforderungen bei der Umsetzung sprachen wir mit den Experten Doris Johnsen und Xaver Pfab.

Frau Johnsen, was genau versteht man unter bidirektionalem Laden?
Johnsen: Bidirektionales Laden ist eine Ladetechnologie, die einen Stromfluss in zwei Richtungen erlaubt. Wir kennen vor allem das unidirektionale Laden, bei dem der Strom lediglich aus der Ladestation in die Batterie des Elektrofahrzeugs, also nur in eine Richtung, fließt. Beim bidirektionalen Laden kann der Strom ebenso zurück, also von der Batterie über die Ladestation in das Stromnetz oder das eigene Hausnetz fließen. Die Batterie des E-Fahrzeugs fungiert dabei als Zwischenspeicher; das EAuto ist nicht länger bloßer „Verbraucher“, sondern kann zum Mitunterstützer des Stromsystems werden. Bei der Einspeisung unterscheiden wir zwei Szenarien: Einmal die Rückspeisung ins eigene Hausnetz, als Vehicle-tohome (V2H) oder – je nach Kontext – auch Vehicle-tobusiness (V2B) bezeichnet. Weiterhin kann die Energie auch ins Stromnetz zurückgeleitet werden, Vehicle-togrid (V2G) genannt.

Die Rückspeisung funktioniert nicht nur im privaten Bereich, sondern auch im industriellen Kontext. Gerade Fahrzeugflotten, also aus mehreren E-Fahrzeugen bestehende Fuhrparks oder übergreifend gepoolte E-Fahrzeuge, bieten eine effektive Möglichkeit, Netzschwankungen innerhalb des Stromnetzes auszugleichen, Lastspitzen abzufangen oder zunächst „überschüssige“ Energie, die beispielsweise aus erneuerbaren Quellen gewonnen wurde, zwischenzuspeichern.

Und wieso sollte man als Privatperson oder auch als Flottenbetreiber bidirektionales Laden nutzen?
Welche Vorteile sind damit verbunden?
Johnsen: Bidirektionales Laden ist – unter anderem im Hinblick auf Wirtschaftlichkeit, Nachhaltigkeit und Autarkie – eine sehr bedeutsame und zielführende Zukunftstechnologie. Ein Beispiel: Wer eine Photovoltaikanlage kauft, investiert je nach Anwendungsfall meist auch in einen stationären Speicher. Das E-Fahrzeug mit bidirektionaler Ladefunktion kann diesen stationären Speicher ganz oder zu großen Teilen ersetzen. Die Kosten für den stationären Speicher können so entfallen oder zumindest erheblich reduziert werden. Außerdem werden durch die Nutzung des eigenen Stroms natürlich Energiekosten eingespart. Weiterhin macht die Nutzung von bidirektionalem Laden unabhängig: Energie, die zum Beispiel durch eine Photovoltaikanlage gewonnen wurde, kann kurzfristig gespeichert und wieder genutzt werden.

Es kann durch die Abgabe des gespeicherten Stroms an das allgemeine Stromnetz perspektivisch sogar eine zusätzliche Einnahmequelle für die Haushalte entstehen und gleichzeitig ein volkswirtschaftlicher Vorteil für das Stromsystem erzielt werden. Das oft ins Feld geführte Argument, Elektromobilität sei im Vergleich zu Verbrennungsfahrzeugen zu teuer, kann spätestens mit dem Einsatz bidirektionaler Ladetechnologie eindeutig entkräftet werden. Ein wichtiger Faktor, um mehr Akzeptanz für Elektromobilität in Deutschland zu schaffen. Und der Einsatz von gepoolten E-Fahrzeugen zur Netzstabilität kann potenziell dazu beitragen, dass der Einsatz der heute überwiegend für diesen Zweck eingesetzten Gaskraftwerke reduziert wird.

Pfab: Frau Johnsen hatte gerade bereits das Thema erneuerbare Energien angesprochen. Elektrofahrzeuge sind schon jetzt in ihrer Lifecycle-Bilanz als nachhaltiger einzustufen als Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren, trotz ihres höheren Energieaufwands bei der Herstellung. Mit Bidirektionalität kann jedes Jahr über das Zwischenspeichern von Strom, der tagsüber nachhaltig erzeugt wird und über Nacht nicht nur in den Haushalt, sondern auch ins Stromnetz gespeist wird, fossiler Strom ersetzt werden – und damit auch die entsprechenden CO2-Emissionen fossiler Kraftwerke vermieden werden. Wird das dem Elektrofahrzeug rechnerisch zugeordnet, ergibt sich dabei ein negativer CO2-Effekt: Jedes E-Auto mit bidirektionaler Ladetechnologie kann dem System jährlich einen beachtlichen Betrag an CO2 entziehen.

Außerdem tragen E-Autos durch die Speicher- bzw. Ausgleichsmöglichkeiten dazu bei, dass konventionelle Energiequellen bald nicht mehr benötigt werden. Das ist nicht nur im aktuellen Kontext von höchster Bedeutung.

Bidirektionales Laden ist der Schlüssel für volatile Energiesysteme: Es erhöht Kosteneffizienz, Dekarbonisierung und die Stabilität von Energienetzen und -märkten.

Und wie ist der aktuelle Status quo in Deutschland?
Sind wir schon bereit für bidirektionales Laden?
Pfab: Bisher konnte bidirektionales Laden – gerade V2G – vor allem im Forschungskontext realisiert werden. V2H und V2B sind praktisch marktreif, in den kommenden Jahren wird es für Privathaushalte erschwingliche Wallboxen sowie E-Fahrzeuge mit bidirektionalen Lademöglichkeiten geben. Im Forschungsprojekt „BDL“ entwickeln Unternehmen wie wir bei BMW und andere gemeinsam mit Partnern aus der Automobilindustrie, der Energiewirtschaft und der Wissenschaft seit Juli 2019 technologische Lösungen für komfortable, kostengünstige und emissionsarme Elektromobilität.

Dazu haben wir derzeit 64 Fahrzeuge im Einsatz. 20 davon bei privaten Pilotkunden, weitere 20 bei gewerblichen Pilotkund:innen, vor allem Industrieunternehmen mit eigenem Fuhrpark. Darüber hinaus sind weitere Fahrzeuge bei den Verbundpartnern der Forschungsstelle Energiewirtschaft stationiert. Diese sind an das Projekt assoziierte Partner und betreiben eigenständige Untersuchungen mit dem BDL-System. Außerdem kooperieren wir mit Hochschulen und anderen Forschungsförderungsprojekten, die unabhängig untersuchen, wo bidirektionale E-Fahrzeuge eine wertvolle Ergänzung darstellen können.

Zielsetzung des Projektes BDL ist es – erstmalig mit einem ganzheitlichen Ansatz – Fahrzeuge, Ladeinfrastruktur und Stromnetze miteinander zu verknüpfen und unter Realbedingungen im Alltag zu testen.

Wichtig ist hier auch, dass das Forschungsprojekt „BDL“ weltweit das einzige Projekt ist, das sich um einen 360-Grad-Blickwinkel auf alle Aspekte des bidirektionalen Ladens – also sowohl die Technik als auch die Kosten, die rechtliche Situation und die Kundenperspektive – bemüht. Darüber hinaus setzt sich das Projekt „BDL” die Aufgabe, das Thema Standardisierung für bidirektionales Lademanagement voranzutreiben. Ein wichtiger Aspekt, der maßgeblich zu einem Markthochlauf der Technologie beitragen kann.

Und was zeigen die Ergebnisse aus der Pilotphase?
Sind wir schon nah dran an einer Nutzung von E-Autos als Stromspeicher?
Pfab: Im Prinzip ja, was V2H oder V2B angeht. Der Erfolg wird auch stark von der Akzeptanz der Nutzer:innen abhängen. Wie weit der Weg hier noch ist, lässt sich ganz gut über die Anwendungsfälle aus dem Pilotprojekt verdeutlichen: Im Bereich der privaten Nutzung von bidirektionalem Laden mit E-Fahrzeugen hat sich gezeigt, dass vor allem vor Beginn der Nutzung noch Vorbehalte gegenüber der Technologie bestehen. Die Sorge war, dass durch das Abgreifen der im E-Fahrzeug gespeicherten Energie nicht genug Akkuladung für das Fahren verbleibt. Wir sehen aber jetzt, dass sich aus der Skepsis Toleranz entwickelt, sobald die Kund:innen die dahinterliegenden Prozesse verstehen. Im Pilotprojekt konnten wir sehen, dass die Kund:innen mit zunehmender Versuchslaufzeit von dem Wunsch einer stets maximalen Reichweite automatisch Abstand nahmen. Die Teilnehmenden des Pilotprojekts luden die Autos bereits nach kurzer Zeit nicht mehr voll auf, sondern pendelten sich bei Ladeständen von 40 bis 60 Prozent ein, um damit möglichst viel Speicherkapazität für das eigene Haus nutzen zu können. Die Pilotphase zeigte weiterhin, dass immer mehr private Nutzer:innen darauf warten, diese Technologie endlich verwenden zu können.

Johnsen: Die Erkenntnisse aus dem Pilotprojekt helfen natürlich auch dabei, den verantwortlichen Stellen im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz aufzuzeigen, wo in den bestehenden Regularien Änderungen vorgenommen werden müssen, damit bidirektionales Laden rechtskonform realisiert werden kann. Man sieht: Damit bidirektionales Laden bald flächendeckend implementiert und für die Netzstabilität eingesetzt werden kann, ist noch einiges zu tun. Forschungsprojekte wie „Bidirektionales Lademanagement – BDL“ leisten hier wichtige Arbeiten, die entsprechende Lösungen zügig zur Marktreife bringen lassen.

Insbesondere bei V2G sind die regulatorischen und technologischen Herausforderungen sehr anspruchsvoll; die Zusammenhänge komplex. Wichtig ist es, zu klären, welche Fragestellungen tatsächlich regulatorisch gelöst werden müssen – entweder auf nationaler oder auch auf EU-Ebene – und zu welchen Fragen sich die Industrie auf Normen und Standards einigen muss. An diesen Fragestellungen wird aktuell intensiv gearbeitet. Um die Komplexität zu reduzieren, ist es auch wichtig, schrittweise vorzugehen und Anwendungsfelder geringerer Komplexität schnell in die Umsetzung zu bringen.

Der Erfolg von E-Autos als Stromspeichern wird auch stark von der Akzeptanz der Nutzer:innen abhängen.

Doris Johnsen, stellvertretende Projektleiterin der Begleitforschung des Förderprogramms „Elektro-Mobil“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) und Senior Beraterin am Institut für Innovation und Technik (iit) in der VDI/VDE Innovation + Technik GmbH

Xaver Pfab, Projektleiter für die Integration von Elektrofahrzeugen in die Stromnetze bei der BMW Group und Leiter des Forschungsprojekts „Bidirektionales Lademanagement – BDL“

Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „Restrukturierung“ erschienen.

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