
Artikel aus dem Handelsblatt Journal „Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz“ vom 11.05.2023
von Prof. Dr. Steffen Müller
Fachkräftemangel und Energiekrise machen einmal mehr deutlich, dass produktive Ressourcen knapp sind. Strukturwandel beschreibt, wie diese wertvollen ökonomischen Ressourcen zwischen Wirtschaftszweigen und einzelnen Unternehmen fortlaufend neu verteilt werden. In diesem Prozess wachsen einige Unternehmen, andere schrumpfen. Jahr für Jahr werden in Deutschland mehrere Millionen Jobs neu geschaffen und gleichzeitig an anderer Stelle abgebaut. Auch der populäre Begriff der ‚kreativen Zerstörung‘ beschreibt diese Neusortierung, fokussiert dabei aber auf den Extremfall des vollständigen Ausscheidens unproduktiver Unternehmen und den Markteintritt neuer, produktiverer Unternehmen. Der Prozess der ständigen Reallokation von Ressourcen ist entscheidend für die Produktivität einer Volkswirtschaft.
Erlahmt die Reallokation, etwa durch strukturkonservative Politikmaßnahmen, längerfristig ausgesetzte Insolvenzantragspflichten oder weil Banken die Realisierung von Abschreibungen für notleidende Unternehmenskredite aufschieben, erlahmt auch das Produktivitätswachstum. Will man mit einer möglichst breiten Unterstützung der Bevölkerung durch die anstehende demographische und ökologische Transformation gehen, muss alles unternommen werden, um Wohlstandsverluste zu vermeiden oder zumindest so gering wie möglich zu halten. Das geht nur, wenn die produktiven Kräfte der Volkswirtschaft gestärkt werden. Die effiziente Allokation knapper Produktionsfaktoren in die produktivsten Betriebe ist dabei ein Faktor mit zentraler Bedeutung. Die sehr niedrigen Insolvenzzahlen der letzten knapp drei Jahre sind in diesem Zusammenhang nicht nur gute Nachrichten.
Was sagt die Arbeitsmarktforschung?
Nach Jahren der Massenarbeitslosigkeit in den 1990erund frühen 2000er-Jahren hat sich in Deutschland ein Beschäftigungswunder vollzogen. Die Arbeitslosenquote sank auf Werte, die um die Jahrtausendwende noch als reines Wunschdenken galten. Die Frage nach den Kosten von Strukturwandel, Insolvenz und Arbeitsplatzverlust für Beschäftigte trat in diesem Umfeld in den Hintergrund und rückte erst durch Pandemie und Energiekrise wieder in den Fokus der Öffentlichkeit. Zentrale ökonomische und soziale Fragen für die Kosten des Strukturwandels sind, warum, unter welchen Umständen, in welcher Höhe und für welchen Zeitraum Beschäftigte nach einem Arbeitsplatzverlust Verdienstausfälle zu tragen haben. Um diese Fragen zu beantworten, vergleicht die ökonomische Forschung Beschäftigte, die durch eine Unternehmensinsolvenz ihre Arbeit verloren haben, mit vergleichbaren Beschäftigten, deren Arbeitgeber sich am Markt behaupten konnte. Durch den Vergleich mit einer Kontrollgruppe lassen sich Kosten des Strukturwandels kausal untersuchen. Der Fokus auf die Insolvenz von Unternehmen reduziert dabei das Risiko, auch solche Entlassungen zu erfassen, für die Beschäftigte eine direkte Mitschuld tragen, etwa durch persönliches Fehlverhalten.
Auswirkungen von Insolvenzen auf das
Lohnniveau der betroffenen Beschäftigten In einer 2021 veröffentlichten Studie für die Zeit vor und während der Finanzkrise Ende der 2000er Jahre zeigen die Arbeitsökonomen Daniel Fackler, Jens Stegmaier und ich in einem Beitrag in der renommierten Fachzeitschrift Journal of the European Economic Association, dass der Rückgang beim jährlichen Arbeitseinkommen im Jahr der Schließung im Vergleich zur Kontrollgruppe bei etwa 25 Prozent liegt. Nach fünf Jahren sinkt der Verlust auf 10 Prozent. Ein Teil des Rückgangs liegt an einer kurzfristig höheren Beschäftigungslosigkeit. Langfristig wichtig ist aber ein permanenter Rückgang beim Bruttolohn. Ein zentraler Befund dabei ist, dass Lohnverluste bei Schließung kleiner Betriebe mit maximal 9 Beschäftigten nahe Null liegen. In mittelgroßen Betrieben mit bis zu 100 Beschäftigten betrugen sie lediglich 4 Prozent. Hingegen müssen Beschäftigte aus insolventen Betrieben mit mehr als 100 Mitarbeitern teils permanente Bruttolohnverluste von 10 Prozent hinnehmen, in der Industrie sind die Verluste noch etwas höher.
Da sich Löhne zumindest langfristig an der individuellen Produktivität orientieren dürften, ist eine mögliche Interpretation des Lohnverlusts, dass Beschäftigte in der Anschlussbeschäftigung weniger produktiv sind als sie es im alten Betrieb waren. Wäre dem so, stünde den positiven Produktivitätseffekten der Reallokation ein negativer Produktivitätseffekt entgegen. Um die Gründe und die individuelle Betroffenheit von Lohnverlusten besser verstehen zu können, ist eine Klassifizierung in Hoch- und Niedriglohnbeschäftigte sowie Hoch- und Niedriglohnbetriebe aufschlussreich. Hochlohnbeschäftigte sind Menschen, die überdurchschnittlich verdienen, egal wo sie arbeiten. Hochlohnbetriebe zahlen allen ihren Beschäftigten mehr als die Konkurrenz. Auf Basis dieser Klassifizierung zeigt sich in der Studie ein entscheidender Grund für permanente Lohnverluste: Entlassene müssen häufig zu Niedriglohnbetrieben wechseln und schaffen im Anschluss nur sehr selten den Wiederaufstieg in besser zahlende Unternehmen. Vor allem betrifft der Abstieg Niedriglohnbeschäftigte. Produktivitätsverluste bei den Beschäftigten selbst zeigen sich nur bei größeren Insolvenzen.
Kosten des Strukturwandels für Beschäftigte heute
Was bedeuten diese Befunde nun für das Insolvenzgeschehen und den Umgang mit dem aktuellen Strukturwandel? Erstens zeigt es, dass die Kosten für die Beschäftigten bei den allermeisten Insolvenzen gering und eher kurzfristig sind. Betroffene Beschäftigte arbeiten im Anschluss in vergleichbarer Beschäftigung und ein Teil schafft sogar einen Aufstieg. Anders ist es bei der Insolvenz von Industriebetrieben mit mehr als 100 Mitarbeitern. Die hierbei für die Jahre um die Finanzkrise geschätzten Lohnverluste sind spürbar, sie sind in Teilen langfristig und sie gehen einher mit Produktivitätsverlusten bei den Beschäftigten. Mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen gibt es jedoch gute Gründe, warum die Kosten der Insolvenz niedriger liegen. Erstens erhöht der mittlerweile grassierende Arbeitskräftemangel die Wiederbeschäftigungschancen entlassener Arbeitnehmer deutlich – ein Umstand, der in der Studie zur Finanzkrise noch nicht so stark zum Tragen kam. Zweitens zeigen Studien, dass sich der deutsche Arbeitsmarkt bisher sehr robust gegenüber anderen großen Veränderungen wie etwa dem Globalisierungsschub um die Jahrtausendwende und der stetig zunehmenden Automatisierung gezeigt hat. In diesen Strukturwandelprozessen sind per Saldo in Deutschland weder Arbeitsplätze dauerhaft verloren gegangen noch Lohnniveaus stark gesunken. Drittens zeigt die Forschung, dass die finanziellen Einbußen nach Arbeitsplatzverlust gemessen am Nettohaushaltseinkommen nach Steuern und Sozialtransfers nochmals deutlich niedriger ausfallen als bei den Bruttolöhnen.
Deutschland steht vor einem notwendigen Strukturwandel. Auch wenn Strukturwandel schmerzhaft sein kann, sollte der Staat diesen nicht behindern. Qualifizierte Beschäftigte werden derzeit und künftig vielerorts händeringend gesucht. In diesem Umfeld drohen weder Massenarbeitslosigkeit noch Einkommensverluste im großen Stil.
In den letzten Strukturwandelprozessen sind in Deutschland weder Arbeitsplätze dauerhaft verlorengegangen noch das Lohnniveau stark gesunken.
Prof. Dr. Steffen Müller, Leiter der Abteilung Strukturwandel und Produktivität, Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH)
Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „Energiewirtschaft“ erschienen.
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