
Von Harald Kam, Dipl. Kfm. | Director | Financial Advisory – Turnaround & Restructuring Services, Deloitte GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
Status quo und Herausforderungen
Das Thema ist nicht neu, und obgleich die Herausforderungen klar sind und entsprechende Diskussionen seit Jahren hin und her wogen, lässt sich bei der komplexen Materie noch wenig zielführende Bewegung erkennen. Sprich: Deutschland steht vor der Herausforderung des umfassendsten Strukturwandels seiner jüngeren Geschichte. Im Nachfolgenden eine Über- und Aussicht der aktuellen Brennpunkte:
- Transformation
In vielen Bereichen des verarbeitenden Gewerbes herrscht aufgrund der geopolitischen Veränderungen, der zunehmenden Bedeutung der Dekarbonisierung sowie der Digitalisierung erheblicher Anpassungsbedarf. Das gleiche Bild zeigt sich in energieintensiven Industrien sowie in den weiteren klimapolitisch im Fokus stehenden Transformationsfeldern Energiewirtschaft, Bau- und Automobilwirtschaft.
- Inhaltliche und geografische Neustrukturierung des Arbeitskräftebedarfs
Laut der Bundesagentur für Arbeit werden in Deutschland bis 2040 rund 5,0 Mio. Arbeitsplätze abgebaut und rund 3,6 Mio. Arbeitsplätze neu entstehen. Während einerseits also Arbeitsplätze wegfallen dürften, wird sich der bereits bestehende Fachkräftemangel in neuen und aufstrebenden Industrien weiter verstärken.
Der Arbeitsplatzabbau wird im Besonderen diejenigen Regionen Deutschlands treffen, die vollständig oder teilweise als strukturschwach zu bezeichnen sind, falls keine Maßnahmen zur Weiterentwicklung dieser Regionen getroffen werden.
- Abschmelzen traditioneller Wirtschaftsstrukturen
Der Abschmelzprozess traditioneller Wirtschaftsstrukturen betrifft besonders die Kohleregionen in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen. Aus diesem Grunde erhalten die Braunkohleregionen gemäß Investitionsgesetz Kohleregionen bis zum Jahr 2038 Finanzhilfen von bis zu 14 Milliarden Euro für besonders bedeutsame Investitionen von Ländern und Gemeinden. Zudem unterstützt der Bund die Regionen durch weitere Maßnahmen in seiner eigenen Zuständigkeit mit bis zu 26 Milliarden Euro bis 2038, etwa durch Erweiterung von Forschungs- und Förderprogrammen, den Ausbau von Verkehrsinfrastruktur-projekten oder durch die Ansiedelung von Bundeseinrichtungen.
Neues Denken für einen gelungenen Strukturwandel
Ein wichtiger Punkt: Regionen im industriellen Wandel haben durchaus das Potenzial, den Rückstand gegenüber den leistungsstärksten Regionen zu reduzieren. Hierbei basieren nachhaltige Wachstumspfade regelmäßig auf der Nutzung regionsspezifischer Besonderheiten, z.B. einer hochwertigen bestehenden Wissensinfrastruktur (z.B. Universitäten, Wissenschaftsparks) oder der geografischen Lage.
Ein erfolgreicher industrieller Wandel setzt voraus, dass man sich neben den spezifischen Besonderheiten nicht nur auf bahnbrechende Innovationen konzentriert, sondern auch auf vorhandene Fähigkeiten sowie Prozesse oder Technologien, die bereits anderswo existieren.
Ein Teil zur Lösung dieser Herausforderungen kann ein mit führenden Universitäten entwickelter Ansatz sein, der Elemente der Restrukturierung und des Innovations-managements miteinander verbindet und auf vorhandenen Erfolgsfaktoren aufbaut.
Das Vorgehen berücksichtigt bei der Lösungsfindung verschiedene Herausforderungen des Strukturwandels:
- Die betroffenen Mitarbeiter oder Bürger werden zu Beteiligten gemacht und bringen sich ebenso aktiv und unternehmerisch in den Prozess ein wie externe Impulsgeber aus Forschung, Industrie und Politik. Hierdurch erhalten Sie eine Stimme für die Entwicklung Ihres Lebensumfeldes und werden zu Promotoren der notwendigen Veränderung.
- Die regionsspezifischen Besonderheiten werden als Grundlage für die Herausarbeitung der zukünftig nutzbaren Kernkompetenzen und Ressourcen berücksichtigt. So werden die vorhandenen Potentiale optimal und nachhaltig genutzt.
- Nicht jede entwickelte Idee kann umgesetzt werden, sodass sowohl eine Selektion als auch eine Priorisierung notwendig sind. Neben der Erfüllung einer Nachfrage werden der Erhalt von Arbeitsplätzen am Standort bzw. in der Region und der Beitrag zur Nachhaltigkeit zu elementaren Bewertungskriterien für die entwickelten Ideen.
Kern des Ansatzes ist die Durchführung eines systematischen Innovationsprozesses unter Einbeziehung von betroffenen Mitarbeitern oder Bürgern, der Gesellschaft vor Ort und anderen interessierten Stakeholdern, um die vorhandenen Kernkompetenzen und Ressourcen möglichst nachhaltig in neuen Geschäftsmodellen in der Region bzw. am Standort einzusetzen. Dieser Prozess führt regelmäßig zu folgenden Ergebnissen, die bereits jedes für sich einen positiven Beitrag zum Strukturwandel leisten:
- Entwicklung innovativer Ideen auf Basis vorhandener Kernkompetenzen und Ressourcen losgelöst von der jeweils bestehenden Branchenlogik
- Partizipation der Betroffenen an der Lösungsfindung, individuelle Weiterentwicklung in Innovation und unternehmerischem Denken
- Entwicklung nachhaltiger Geschäftsmodelle für die Förderungen oder andere Finanzierungen zur Verfügung stehen
- Aufbau oder Weiterentwicklung von Netzwerken der beteiligten Gruppen aus Wissenschaft, Industrie und Politik
Fazit
Nur wenn wir – also alle Betroffenen und Beteiligten – bereit sind für neues Denken und uns gemeinsam den Herausforderungen stellen, können wir einen wirksamen Beitrag zur Bewältigung der aus dem Strukturwandel resultierenden Herausforderungen leisten. Hier sind nicht nur regionale und lokale Behörden und Organisationen gefragt, auch der Gesetzgeber und die Gesellschaft müssen an einem Konsens in diesen Fragen interessiert sein.