Restrukturierungsrisiko Zinswende – was Entscheider jetzt beachten müssen

Prof. Dr. Georg Streit, Rechtsanwalt, Partner, Heuking Kühn Lüer Wojtek

Inflation und Zinswende als Katalysatoren von Unternehmenskrisen

Seit dem Sommer 2022 vollzieht die EZB vor dem Hintergrund einer dramatisch hohen Inflation eine Zinswende in großem Ausmaß. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf das Restrukturierungsgeschehen.

Die Kreditinstitute geben ihre höheren Finanzierungskosten aufgrund erhöhter Zentralbankzinsen an ihre Kunden weiter. Dies führt zur Verteuerung von Krediten und anderen Fremdmitteln (z.B. Anleihen, Mezzaninekapital). (Anschluss-)Finanzierungen sind gefährdet.

  • Hohe Inflation
    • Beschaffungspreise steigen
    • teure Tarifabschlüsse, Lohnkosten steigen
  • Einschneidende Zinswende
    • Finanzierungskosten steigen
  • Aufwand in Gewinn- und Verlustrechnung erhöht sich
  • Sinkendes EBIT/EBT
    • steigender Leverage (Verschuldungsgrad)
  • Sinkende Bonität
    • schwierige (Anschluss-)Finanzierungen
    • Unternehmenskrise / Bestandsgefährdung?

Sorglosigkeit verbreitet, Wachsamkeit angezeigt

In den vergangenen drei Jahren haben Fiskus und Gesetzgeber vielfach interventionistisch in Form von Corona Hilfsprogrammen und Energiehilfen (Preisbremsen) in die Wirtschaft und in das Insolvenzrecht eingegriffen. Verbreitet scheint in der Wirtschaft die Auffassung zu bestehen, dass der Staat schon helfen werde, sollte die Liquidität ausgehen, und dass die durch temporäre Aussetzung/Beschneidung der Insolvenzantragsgründe während der Corona Pandemie zurückgedrängte Pflicht zur Insolvenzantragstellung zu einem „zahnlosen Papiertiger“ geworden sei. Ersteres erscheint angesichts des inzwischen extremen Ausmaßes der Staatsschulden aber unwahrscheinlich und Letzteres ist falsch. Die Insolvenzantragsgründe Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung gelten längst wieder uneingeschränkt für Rechtsträger mit Haftungsbeschränkung. Die straf- und haftungsrechtlichen Sanktionen bei Verstößen gegen die Insolvenzantragspflichten sind einschneidend.

Insolvenzrechtliche Fortbestehensprognose aktuell auf vier Monate verkürzt

Mit dem SanInsKG wurde u.a. der monatlich rollierende Prognosezeitraum für die Fortbestehensprognose im Rahmen der insolvenzrechtlichen Überschuldungsprüfung für das Jahr 2023 von zwölf auf vier Monate verkürzt (bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen). Besteht aktuell für die nächsten vier Monate prognostisch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine Durchfinanzierung, so liegt keine insolvenzrechtliche Überschuldung gem. § 19 InsO vor (bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen).

Risiko hinsichtlich künftig nötiger Finanzierungen bei sinkender Bonität

Die oben aufgezeigten Effekte der Inflation und der Zinswende mit der Folge sinkender Ertragskraft, Liquidität und Bonität bei vielfach im Zuge der Pandemie und der Energiekrise gestiegenen Schuldenlasten dürften für viele Unternehmen bestandsgefährdende Risiken bergen. Die Verkürzung des insolvenzrechtlichen Prognosezeitraums im Rahmen der Überschuldungsprüfung darf daher nicht zur Sorglosigkeit verleiten:

  • Vorwirkendes „Verfallsdatum“ des SanInsKG: Der Anwendungszeitraums des SanInsKG endet bereits am 31.12.2023. Der monatlich rollierende Prognosezeitraum bei der Überschuldungsprüfung beträgt ab Anfang 2024 wieder 12 Monate. Dieses „Umschlagen“ am 01.01.2024 liegt seinerseits bereits ab Anfang September 2023 wieder im Blickfeld des dann noch geltenden viermonatigen Prognosezeitraums. Daher sollte aus Vorsichtsgründen bereits ab dem Spätsommer 2023 faktisch wieder ein zwölf Monate betragender Prognosezeitraum zugrunde gelegt werden.
  • Handelsrechtliche Fortführungsprognose nicht verkürzt: Das SanInsKG lässt die zeitliche Reichweite der handelsrechtlichen Fortführungsprognose unberührt. Weiterhin ist eine überwiegende Wahrscheinlichkeit der Unternehmensfortführung für das laufende und das folgende Geschäftsjahr für den Going Concern nötig.
  • Pflichten gem. § 1 StaRUG: § 1 Abs. 1 StaRUG regelt eine allgemeine, zeitlich unbegrenzte Pflicht zur fortlaufenden Überwachung bestandsgefährdender Entwicklungen und damit einhergehend die Pflicht zur Einrichtung bzw. Anwendung eines Systems zur Krisenfrüherkennung. Zeichnen sich bestandsgefährdende Entwicklungen ab, hat die Geschäftsleitung frühzeitig geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen, auch wenn die Bestandsgefährdung zeitlich noch außerhalb der vorgenannten Prognosezeiträume gem. InsO und HGB liegt.

Relevante Prognosezeiträume

Die unterschiedlichen Prognosezeiträume veranschaulichen folgende Bilder:

Legende: Titanic = Unternehmen; Steuermann/Kapitän = Geschäftsleitung;

Eisberg = notwendige (Anschluss-)Finanzierung

Fazit: Erhebliche Risiken, frühzeitiges Handeln nötig, insbesondere bezüglich (Anschluss-)Finanzierungen

Die multidimensionale Krise mit ihren besonders dramatischen Faktoren der Zinswende und der Inflation stellt die Unternehmen vor enorme Herausforderungen. Trotz der aktuell geltenden Verkürzung der Dauer der insolvenzrechtlichen Fortbestehensprognose sind die Planungen und die Prüfung der Krisenfestigkeit sowie die Überlegungen zur Tragfähigkeit und Finanzierbarkeit des Geschäftsmodells auf mehrere Jahre zu erstrecken. Steigender Aufwand in Bezug auf Beschaffungspreise, Lohnkosten und Zinsen, sinkende Bonität und steigende Finanzierungsrisiken können den handelsrechtlichen Going Concern und das Testat für die Bilanzierung zu Fortführungswerten sowie die Erfüllung von Covenants in Finanzierungsverträgen gefährden. Daher bestehen Risiken für den Bestand des Unternehmens auch dann, wenn die Cashflows im Rahmen einer rollierenden, rein insolvenzrechtlichen Viermonatsbetrachtung noch zur Erfüllung der Verbindlichkeiten ausreichen.

Für die Beurteilung der Unternehmensfortführung ist eine die vorstehend beschriebenen Effekte berücksichtigende Gesamtbetrachtung anzustellen und kontinuierlich fortzuschreiben. Dabei sind die getroffenen Annahmen sorgfältig zu dokumentieren. Bestehen Risiken im Zusammenhang mit in den nächsten Jahren erforderlichen (Anschluss-)Finanzierungen, so sollten bereits jetzt Sanierungsspezialisten hinzugezogen werden.

Akuter Handlungsbedarf besteht tendenziell bei Unternehmen, die mit flexiblen Zinskonditionen finanziert sind und die Zinswende bereits spüren oder in den nächsten 24 Monaten auslaufende Finanzierungen (Kredite, Anleihen, Mezzaninekapital) aufweisen. Verhandlungen zu (Anschluss-)Finanzierungen werden schwieriger und sind möglichst frühzeitig zu führen. Restrukturierungen sind rechtzeitig einzuleiten, damit noch ausreichende Handlungsspielräume bestehen.