
Artikel aus dem Handelsblatt Journal „Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz“ vom 11.05.2023
von Prof. Dr. Christoph Thole
Der BGH hat in einer grundlegenden Entscheidung vom 27.10.2022 (IX ZR 213/21) wichtige Maßstäbe für vertragliche Kündigungs- und Rücktrittsrechte im Kontext von Krise und Insolvenz aufgestellt. Wenn Verträge in der Krise oder bei Insolvenz des Vertragspartners gekündigt oder Finanzierungen und andere Forderungen fällig gestellt werden, stellt sich häufig die Frage, ob die Lösung vom Vertrag wirksam ist. Das hängt davon ab, ob das zugrunde liegende Kündigungs- oder Fälligstellungsrecht wirksam vereinbart ist und zulässigerweise ausgeübt werden darf. Unproblematisch ist das in der Regel, wenn sich der kündigende Vertragsteil auf ein im Gesetz vorgesehenes Recht zur Kündigung stützt. Beispielsweise sieht das BGB bei Darlehensverträgen weit reichende Kündigungsmöglichkeiten für einen Darlehensgeber vor.
Ebenso kennt das Gesetz eng begrenzte Rechte zur Kündigung von Dauerschuldverhältnissen bei Störung der Geschäftsgrundlage. Davon zu unterscheiden ist stets die Frage nach vertraglich begründeten Lösungsmöglichkeiten. Hierfür hat nun der BGH in seiner Entscheidung wichtige Weichen gestellt, die jeder, der sich mit Vertragsgestaltung befasst, im Blick haben muss. Die neue Entscheidung beeinflusst auch maßgeblich die Handlungsoptionen von Kreditgebern und sonstigen Vertragspartnern eines Schuldners, wenn beispielsweise ein Insolvenzantrag gestellt worden ist oder das Insolvenzverfahren eröffnet wurde.
Die bisherige Rechtslage in der Praxis
Bisher war in der Rechtsprechung und Literatur nicht abschließend geklärt, ob sich ein Vertragspartner auf ein in den Vertragsbedingungen vorgesehenes Rücktritts-, Kündigungs- oder Fälligstellungsrecht stützen darf, soweit dieses Recht durch den Eintritt der Insolvenzreife oder den Insolvenzantrag oder die spätere Eröffnung eines Insolvenzverfahrens ausgelöst wird. Soweit solche Klauseln, die streng an ein Insolvenzereignis anknüpfen, für unwirksam gehalten wurden, beruhte dies auf § 119 InsO, der dem Schutz des sogenannten Verwalterwahlrechts bei schwebenden gegenseitigen Verträgen dient und abweichende Vereinbarungen für unwirksam erklärt. Die Gegenauffassung hatte, u.a. mit Blick auf die Gesetzeshistorie, auch insolvenzabhängige Klauseln für zulässig erachtet, allerdings ihre Ausübung mitunter an einschränkende Voraussetzungen geknüpft. Einig war man sich, dass insolvenzunabhängige Klauseln statthaft sind. Schon gesetzlich ist die (bloße) Vermögensverschlechterung ein Anknüpfungspunkt für das Rücktrittsrecht (§ 321 Abs. 2 S. 2 BGB) und das außerordentliche Kündigungsrecht des Darlehensgebers (§ 490 BGB).
Der BGH hatte in einer Entscheidung vom 15.11.2012 die Kündigung eines Energieversorgers gegenüber dem Schuldnerunternehmen für unzulässig erachtet. Ersichtlich ging es dort darum, bei betriebsnotwendigen Leistungen eine „Erpressungssituation“ zu verhindern, in der ein Vertragspartner den bestehenden Vertrag (Energieversorgungsvertrag) kündigt und zugleich zu für den Schuldner schlechteren Konditionen einen Neuvertrag anbietet.
In dem nunmehr entschiedenen Fall ging es nicht um Energieversorgung, sondern um einen Schülerbeförderungsvertrag. Schuldnerin war ein Busunternehmen. Die Auftraggeberin kündigte den Beförderungsvertrag nach Eingang des Insolvenzantrags unter Hinweis auf eine Vertragsklausel, die allgemein eine Lösung vom Vertrag bei wichtigem Grund zulässt. Allerdings war dieser wichtige Grund in den Vertragsbedingungen inhaltlich konkretisiert. Danach galten als wichtige Gründe insbesondere die Zahlungsunfähigkeit des Busunternehmens, der Insolvenzantrag und die Insolvenzeröffnung. Insofern war der „wichtige Grund“ vertraglich bereits mit Insolvenzereignissen „aufgeladen“.
Neue Unsicherheiten durch das aktuelle BGH-Urteil (IX ZR 213/21)?
Der BGH stand vor der Frage, ob diese Klausel mit insolvenzrechtlichen Wertungen vereinbar ist. Der BGH wählt keine „Entweder-Oder“-Lösung, sondern er versucht zu differenzieren, was für die Vertragspraxis allerdings einige Unsicherheit bedeuten dürfte. Der BGH geht nämlich davon aus, dass insolvenzbezogene Kündigungsrechte nicht generell unzulässig sind. Allerdings ist eine „insolvenzrechtlich gerechtfertigte Zielsetzung“ der Lösungsmöglichkeit verlangt. Entscheidend sei eine typisierte Bewertung der Interessen des Schuldners einerseits und des Vertragspartners andererseits. Es kommt darauf an, ob und in welchem Maße die Abwicklung des Vertrags durch das Insolvenzereignis gestört würde, so dass dem Vertragspartner die Lösung vom Vertrag gestattet sein muss. Der BGH meint, ein insolvenzabhängiges Kündigungsrecht für „Geldleistungsgläubiger“ sei anders als bei Sachleistungsgläubigern regelmäßig unzulässig, denn einem Geldleistungsgläubiger sei ein stärkerer Eingriff in die Vertragsfreiheit zumutbar als einem Sachleistungsgläubiger. Eine berechtigte Zielsetzung erkennt der BGH ausdrücklich bei Sanierungsversuchen an, wenn der Vertrag als Teil einer Sanierung zustande kommt und das Lösungsrecht dazu dient, die Risiken des Scheiterns der Sanierung abzumildern. Auch bleibt es dabei, dass Klauseln zulässig sind, soweit sie gesetzliche Lösungsmöglichkeiten lediglich im Vertragstext wiedergeben. Allerdings erachtet es der BGH für möglich, dass eine Klausel zwar wirksam, die Ausübung des Lösungsrechts aber im Einzelfall treuwidrig ist.
Besonders aufhorchen lassen die Ausführungen des BGH zur Eigenverwaltung. Obwohl durch den Fall überhaupt nicht veranlasst, lässt der BGH erkennen, dass Lösungsmöglichkeiten besonders bedenklich sind, soweit sie den Fall einer Eigenverwaltung betreffen. Insoweit verweist der BGH auf die Regelung des § 44 StaRUG, die für das mit der Eigenverwaltung zumindest verwandte Restrukturierungsverfahren des StaRUG ebenfalls ein entsprechendes Klauselverbot enthält. Offenbar geht der BGH von der Erwägung aus, in der Eigenverwaltung würde die Abwicklung des Vertrags weniger weitreichend gestört als bei einem Insolvenzverfahren mit Insolvenzverwalter, so dass eine Kündigung durch den Vertragspartner weniger gerechtfertigt erscheint. Ob es wirklich überzeugt, zwischen Eigenverwaltungsverfahren und klassischem Insolvenzverfahren zu unterscheiden, bleibt allerdings doch sehr fraglich.
Was sind die „Lessons learned“ aus dieser Entscheidung des BGH für die Kautelarpraxis?
Wichtig erscheint, dass sich die Beteiligten künftig bei Finanzierungsverträgen, erst recht aber bei allgemeinen Dienstleistungs- oder Sachleistungsverträgen über die Zielsetzungen entsprechender Kündigungsrechte vermehrt Gedanken machen. Die unreflektierte Übernahme von Musterformularen, die entsprechende Lösungsrechte für den Insolvenzfall vorsehen, kann sich im Fall der Fälle schnell als Bumerang erweisen. Zu fragen ist, welche berechtigten Zielsetzungen die Parteien mit der Klausel verfolgen wollen.
Ob sich Auswirkungen auf die allgemeinen Kündigungsrechte wie jene von Darlehensgebern ergeben, bleibt abzuwarten. Grundsätzlich rüttelt der BGH an den gesetzlichen Lösungsrechten nicht. Allerdings ist absehbar, dass etwa die Prüfung, ob ein wichtiger Grund für die Lösung vom Vertrag vorliegt, unter anderem eine angestrebte Restrukturierung oder einen laufenden Sanierungsprozess einbeziehen müsste.
Die Entscheidung vom 27.10.2022 ist Pflichtlektüre für jeden Vertragsjuristen. Zugleich sollten sich auch die Geschäftsleiter sowie Sanierungsberater möglicher unwirksamer Vertragsklauseln bewusst sein, weil von der Wirksamkeit der Kündigung Fragen der Zahlungsunfähigkeit und andere Rechtsfolgen abhängen können.
Die Entscheidung des BGH (IX ZR 213/21) ist Pflichtlektüre für jeden Vertragsjuristen.
Prof. Dr. Christoph Thole, Dipl.-Kfm., Universitätsprofessor der Universität zu Köln und Direktor des Instituts für Verfahrensrecht und Insolvenzrecht
Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „Energiewirtschaft“ erschienen.
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