Die Ziele im Blick behalten

von Christine Lambrecht, MdB

Fortschritte der Impfkampagne, rückläufige Infektionszahlen, ermutigende Prognosen: Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses dieser Ausgabe gibt es gute Gründe, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Zugleich ist offensichtlich, dass die Corona-Pandemie noch nicht überstanden ist und viele von ihr bewirkten Verwerfungen erst noch bewältigt werden müssen. Gerade auch im Wirtschaftsleben. Viele Unternehmen hat die Pandemie hart getroffen. Und bis zu einer  vollständigen Erholung wird es in manchen Branchen noch lange dauern. Zu erwarten ist deshalb, dass den Themen Restrukturierung, Sanierung und Insolvenz in den nächsten Monaten besonders viel Aufmerksamkeit zukommen wird.


Seit dem 1. Mai 2021 unterliegen Geschäftsleiter haftungsbeschränkter Unternehmensträger wieder ausnahmslos der Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags, wenn das Unternehmen überschuldet oder zahlungsunfähig ist. Die durch die Coronakrise bedingte Aussetzung der Insolvenzantragspflicht ist ausgelaufen. Sie betraf zuletzt nur noch Unternehmen, die einen Anspruch auf staatliche Hilfsgelder hatten. Die Auszahlung der Hilfsgelder hat nach anfänglichen  Verzögerungen an Tempo gewonnen. Über 100 Milliarden Euro sind inzwischen geflossen. Und weitere Gelder werden fließen. Die Aussetzungsregelung auslaufen zu lassen, war deshalb eine vertretbare politische Entscheidung. Eine wirtschaftspolitische Kurskorrektur liegt darin nicht. Unternehmen mit einem tragfähigen Geschäftsmodell sollen wegen der Pandemie möglichst nicht aufgeben müssen: Dieses Ziel bleibt weiterhin richtig. Und deshalb werden wir die weitere Entwicklung des Insolvenzgeschehens genau beobachten.

Im Blick behalten werden wir auch, wie sich die große Neuerung des deutschen Sanierungsrechts bewährt: Das seit dem 1. Januar 2021 geltende Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz (StaRUG). Mit dem Gesetz haben wir eine lang beklagte Lücke im deutschen Sanierungsrecht geschlossen: die Lücke zwischen der freien, auf den Konsens aller Beteiligten angewiesenen Sanierung und der Sanierung in einem förmlichen Insolvenzplanverfahren. Sanierungslösungen, die nicht von allen Akteuren unterstützt werden, können Unterhoffen, dass sich die innovativen Instrumente auch in der sanierungsrechtlichen Praxis bewähren. Die vielen positiven Rückmeldungen aus dem Gesetzgebungsverfahren und die ersten Praxiserfahrungen stimmen mich optimistisch.

Ein insolvenzrechtliches „Ende der Geschichte“ wird mit den umfangreichen Reformen der jüngeren Zeit nicht verbunden sein. Die Europäische Kommission hat zu erkennen gegeben, dass sie weitere Schritte bei der Harmonisierung des Insolvenzrechts anstrebt. Dieses Ansinnen ist nachvollziehbar. Denn der durch die EU-Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz (Richtlinie (EU) 2019/1023) erreichte Harmonisierungsgrad ist begrenzt – und weitere  Harmonisierungsfortschritte versprechen unter Binnenmarktgesichtspunkten Vorteile.

Allerdings empfiehlt sich aus meiner Sicht ein behutsames Vorgehen. Die Frist zur Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie, die wir vor allem durch das neue StaRUG umgesetzt haben, ist noch nicht einmal abgelaufen. Und wir haben derzeit noch wenig praktische Erfahrungen mit den neugeschaffenen Regelungen. Außerdem hat der begrenzte Harmonisierungsgrad der Richtlinie nachvollziehbare Gründe. Das Insolvenzrecht weist vielfältige Bezüge zu anderen Bereichen des Wirtschaftsrechts auf, die ihrerseits nicht oder nur teilweise harmonisiert sind. Oft handelt es sich dabei um Materien, die für das gesamte Rechts- und Wirtschaftssystem des jeweiligen Mitgliedsstaats prägend sind. Eine deutlich weiterreichende Harmonisierung des Insolvenzrechts wird deshalb voraussichtlich auf – durchaus nachvollziehbare – Vorbehalte stoßen.

Was auch immer die weiteren Diskussionen bringen: Für die anstehenden Herausforderungen sehe ich das deutsche Insolvenz- und Sanierungsrecht schon heute gut aufgestellt. ■

Christine Lambrecht, Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz

 

Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz“ erschienen.

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