
von Mercedes Alonso
Der Druck könnte größer nicht sein. „Beispiellos, unumkehrbar, schnell“ waren drei der einprägsamen Begriffe, mit denen die Wissenschaftler hinter dem IPCC-Bericht im August 2021 ihre Ergebnisse zum Klimawandel eingeordnet haben. Der Bericht des Weltklimarates hat noch einmal sehr unmissverständlich deutlich gemacht, was eigentlich alle wissen: der menschengemachte Klimawandel schreitet voran und er tut es schnell. Die Gewissheit, dass er es bisweilen ungebremst tut, gab es im Herbst pünktlich zur Uno-Klimakonferenz in Schottland: Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre hat im Jahr 2020 laut der WMO (World Meteorological Organization) trotz Pandemie ein Allzeithoch erreicht.
Wie gelingt die Klimatransformation der Industrie?
Die Frage nach der Klimatransformation ist daher längst keine Frage nach dem „ob“ oder „wann“ mehr. Es ist eine Frage nach dem „wie viel“ und „wie schnell“. Die Industrie trägt dabei eine besondere Verantwortung. Rund ein Fünftel der weltweiten CO2-Emissionen gehen auf ihr Konto. Auch wenn die Industrie in Deutschland die Treibhausgasemissionen in den vergangenen 30 Jahren deutlich senken konnte, liegt noch viel Strecke vor uns. Um diese zu meistern und um unserer Verantwortung gerecht zu werden, müssen wir unser Denken und Arbeiten ändern. Insbesondere in der Chemieindustrie führt kein Weg daran vorbei, lineare Wertschöpfungsketten in Kreisläufe zu verwandeln: Denn im Gegensatz zu anderen Sektoren lässt sich die Chemie nicht dekarbonisieren. Kohlenstoff ist ein unverzichtbarer Grundbaustein vieler Prozesse. Entscheidend wird daher nicht der Schritt weg vom Kohlenstoff sein, sondern der Schritt hin zur Kreislaufwirtschaft.
Vor eine große Herausforderung stellen uns dabei komplexe Wertschöpfungsketten. Vom Rohstoff bis zum Produkt ist es in der Industrie oft ein langer Weg mit vielen Prozessschritten und -beteiligten. Beim Ausbau von Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft geht es daher nicht um punktuelle Anpassungen, sondern um eine ganzheitliche Transformation: Es geht um die Veränderung einer Maschine, in der viele Zahnräder ineinander wirken. Alleingänge bringen uns nicht weiter, sondern die Maschine aus dem Takt: Kein Unternehmen wird die Transformation alleine schaffen, kein Unternehmen wird alleine einen Kreis bilden. Stattdessen braucht es gemeinsame Anstrengungen und Zusammenarbeit. Dabei gibt es fünf Erfolgsfaktoren:
(1) Es braucht den Blick auf die gesamte Wertschöpfungskette. Der Wandel wird nur gelingen, wenn wir verstehen, welche Rolle die übrigen Glieder der Kette spielen – und vor welchen Herausforderungen sie stehen. Es gilt, viele verschiedene Interessen zu erkennen und unter einen Hut zu bringen. Als Unternehmen sind wir nicht länger Lieferant, Hersteller oder Kunde, sondern Teil eines großen Kreises. Wir müssen über den Tellerrand des eigenen Unternehmens und Geschäftsmodells hinausblicken. Ein Beispiel, wie das aussehen kann, ist die Zusammenarbeit von Covestro und Neste: Auf den ersten Blick gibt es keine direkte Beziehung zwischen beiden Unternehmen. Tatsächlich vereint beide Unternehmen aber der Wille zur Nachhaltigkeit – und sie sind essenzielle Teile des gleichen Kreislaufs. Gemeinsam arbeiten beide daher daran, die Wertschöpfungskette vom Rohstoff bis zum Produkt zu einem Kreislauf zu formen und nachhaltigere Lösungen zu entwickeln.
(2) Die übergreifende Zusammenarbeit entlang der Wertschöpfungskette und das Verständnis für die Herausforderungen der anderen erfordert Kompromissbereitschaft. Gemeinsame Anstrengungen werden nur dann erfolgreich sein, wenn wir aufeinander eingehen. Das heißt auch, dass wir an der ein oder anderen Stelle selbst zurückstecken müssen: Die Maximierung der eigenen Vorteile muss der Maximierung des gemeinsamen Fortschritts weichen.
(3) Denn im Kern geht es darum, Win-Win-Situationen zu schaffen. Wir werden nur dann einen stabilen Kreislauf erreichen, wenn alle davon profitieren. Es wird gemeinsame Ziele brauchen, auf die alle hinarbeiten. Auch hier verdeutlicht ein Beispiel das Potenzial: Gemeinsam mit Ravago plant Neste derzeit eine Anlage für das chemische Recycling. Das gemeinsame Ziel: Die Verarbeitung von 200.000 Tonnen gemischten Plastikabfällen pro Jahr ab 2030. Den Win-Win-Moment bringt dabei die Verbindung gegenseitiger Expertise: Bei Ravago liegt diese u.a. im Bereich der mechanischen Aufbereitung von Kunststoffabfällen, bei Neste in der Verarbeitung verflüssigter Kunststoffabfälle zu wertvollen Rohstoffen für hochwertige Kunststoffe und Chemikalien. Gemeinsam entsteht Neues, von dem alle profitieren.
4) Das offen sein für Neues ist ein ganz wichtiger Faktor. Es wird Risikobereitschaft brauchen. In der tendenziell anlagenintensiven Industrie sind wir darauf gepolt, bei jedem Vorhaben und bei jeder Investition die Risiken zu minimieren und die Sicherheit zu maximieren. Investitionssicherheit ist stets das Gebot der Stunde. Natürlich spricht nichts dagegen, Risiken zu senken. Aber: Wir werden keinen schnellen Wandel schaffen, wenn wir nicht mutig sind und auch Neues ausprobieren – ohne uns 100% sicher zu sein. Denn genau darum wird es beim Aufbau von Partnerschaften in der Industrie gehen: sich auf Neues einlassen und offen sein. Wir müssen gemeinsam eine Mentalität des Machens und Ausprobieren etablieren.
(5) Je mehr Partner entlang der Wertschöpfungskette zusammenarbeiten, desto besser. Gleichzeitig bedeutet es aber auch, dass verschiedene Technologien und Lösungen aufeinandertreffen. Hier ist Akzeptanz gefragt: Akzeptanz dafür, dass verschiedene Lösungen ihre Berechtigung haben und co-existieren. Das bedeutet auch, dass wir uns verabschieden von der Überzeugung, stets die eine Wunderwaffe zu besitzen. Denn aufgrund der verschiedenen Voraussetzungen und Anforderungen verschiedener Partner kann es die kaum geben. Hinzu kommt die zeitliche Perspektive: Manche Lösung mag langfristig große Erfolge versprechen, eine andere ermöglicht kleinere Erfolge, entfaltet ihr Potenzial aber bereits kurzfristig. Weil ein Warten auf morgen keine Option ist, haben beide ihre Berechtigung. Und nicht zuletzt gilt: Wer Technologien ausschließt, schließt Partner aus. Die Offenheit für verschiedene Lösungsansätze verdeutlicht ein weiteres Beispiel, nämlich die Zusammenarbeit von Unilever und Neste bei der Suche nach nachhaltigen Lösungen für Inhaltsstoffe und Verpackungen im Bereich Waschmittel. Hier spielen verschiedene Technologien eine Rolle: Es geht um erneuerbare und bio-basierte Lösungen, aber auch um Recycling. Ganz nach dem Motto: Ergänzen statt Ausschließen – denn beide Lösungen leisten ihren Beitrag zur Bekämpfung der Klimakrise und genau die muss im Mittelpunkt stehen.
Je komplexer die Wertschöpfungskette, desto mehr wird der Kampf gegen den Klimawandel zum Mannschaftssport. Neben Innovationen und neuen Technologien werden Partnerschaften und Zusammenarbeit den Kampf gegen den Klimawandel entscheiden. Darin liegt eine Herausforderung, aber auch eine Chance: Einerseits müssen wir uns aufeinander einstellen, andererseits haben wir gemeinsam ungleich mehr chlagkraft. Insofern stehen wir vor der Entscheidung, auf was wir in zehn Jahren zurückblicken wollen: auf einen Flickenteppich aus Einzelaktionen, weil jeder nur seine individuellen Ziele im Blick hatte – oder auf einen gemeinsamen Kraftakt mit echtem Mehrwert? Ich habe eine klare Präferenz und bin überzeugt, dass wir gut daran tun, die Klimatransformation als gemeinsame Aufgabe zu begreifen.
Neben Innovationen und neuen Technologien werden Partnerschaften und Zusammenarbeit den Kampf gegen den Klimawandel entscheiden.
Mercedes Alonso
Executive Vice President Renewable Polymers and Chemicals
Neste
Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „Finance“ erschienen.
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