
Schneller und besser entscheiden
von Prof. Dr.-Ing. Günther Schuh
Die zusätzlich vorgesehenen Airbags und weitere Sicherheitsfeatures waren ausschlaggebend: Ursprünglich für die Fahrzeugkategorie L7E ausgelegt, waren die hier maximal zulässigen 450 kg Leergewicht für den e.GO Life nicht mehr einzuhalten. Der Sprung in die Standard-Kategorie M1 bedeutete eine grundlegende Neuauslegung des Fahrzeugs. Dies ging einher mit einer Vergrößerung der Fahrzeugbreite, einer Änderung des Designs, einer Erweiterung des Nutzungskonzepts zum 2+2-Sitzer – zusammen mit der Integration diverser weiterer Anforderungen.
In der Konstruktionssprache spricht man im beschriebenen Fall von einem Major Change Request. Während die Abwicklung einer derartig umfangreichen technischen Änderung im Normalfall schnell ein halbes Jahr dauern kann, gelang sie beim e.GO Life in neun Wochen. Die fehlerfreie und schnelle Abwicklung von technischen Änderungen „auf Knopfdruck“ spiegelt wie kaum ein anderer Unternehmensprozess die Agilität produzierender Unternehmen wieder. An Stelle des optimalen Betriebspunkts rückt genau diese Fähigkeit agilen Handelns in den Mittelpunkt. Denn: Sie ist Indikator des Reaktionsvermögens produzierender Unternehmen. Und in einem Marktumfeld, das von hochdynamischen Kundenanforderungen geprägt ist, ist ein hohes Reaktionsvermögen wegweisend.
Doch was ist die Voraussetzung agilen Handelns? Was befähigt e.GO zur Durchführung eines Major Change Requests innerhalb von neun Wochen? Um dem auf den Grund zu gehen lohnt sich ein Blick in unseren Alltag, in dem das Internet of Things (IoT) zu unserem ständigen Wegbegleiter geworden ist. Mobile Endgeräte erlauben uns unter Nutzung mobilen Internets und Apps größtmögliche Transparenz. So wird beispielsweise im Gruppenchat ein Foto vom Treffpunkt inkl. Ortsangabe gepostet oder der aktuelle Standort des bestellten Taxis eingesehen. Inspiriert vom Alltagsleben erhält das IoT nun Einzug in die Industrie und entwickelt sich zum Internet of Production für eine datenbasierte Entscheidungsunterstützung in allen Hauptprozessen. Der große Unterschied: Beim IoT zeigt sich das Potenzial insbesondere bei Fragstellungen mit wenigen Einflussparametern und einer gleichzeitig großen verfügbaren Datenmenge. Produktionsunternehmen zeichnen sich hingegen durch Zusammenhänge
aus, die ungleich komplexer sind. Und Produktionsunternehmen verfügen über eine Datengrundlage, die über diverse proprietäre Applikationssysteme verteilt ist. Dem trägt die Internet of Production-Infrastruktur Rechnung.
Neuauslegung des Fahrzeugs durch einen Major Change Request in neun Wochen: Der e.GO Life
Auf der untersten Schicht fußt die Infrastruktur auf bestehenden Applikationssystemen mit ihren jeweiligen proprietären Rohdaten. Grund hierfür: Der historisch gewachsene Funktionsumfang der einzelnen Applikationssysteme ist für die Effizienz schnittstellenarmer Prozesse nicht ersetzbar. Für interdisziplinäre Prozesse wie den Änderungsprozess wird die Ebene um drei übergeordnete Schichten erweitert. Der Zugang zu den Rohdaten für die weitere Be- und Verarbeitung ist über eine Middleware+ realisiert. Es folgt die horizontale Vernetzung und Veredelung der Rohdaten. Die umfangreiche Menge an Rohdaten wird zu Smart Data. Hierfür erfolgt eine Verarbeitung der Rohdaten durch Methoden aus dem Bereich der Datenanalyse. Zum Einsatz kommen unter anderem Korrelationsanalysen, Clusteralgorithmen, Lernalgorithmen oder Metaheuristiken. Sowohl die durch Datenanalyse verarbeiteten Daten als auch einfach kopierte Rohdaten bilden gemeinsam den Digitalen Schatten als relevantes Abbild der Realität in Echtzeit. Das relevante Abbild umfasst einen Ausschnitt des Rohdatenumfangs, der einen Mehrwert für den aktuellen Anwendungsfall bildet. Die Datenmodelle als Gesamtheit werden als Digitaler Schatten gespeichert bzw. zwischengespeichert. Zur Rolle des Menschen: Dieser stellt in der Produktion weiter die zentrale Entscheidungsinstanz dar. Ihm werden als Smart Expert durch geeignete Apps die relevanten Informationen für die jeweilige Entscheidungssituation kontextabhängig bereitgestellt. Das Erfahrungswissen des Smart Experts wird mit dem Internet of Production angereichert. Alternativ kann für repetitive Entscheidungssituationen die Entscheidungsfindung eigenständig durch Agenten übernommen werden. Getroffene Entscheidungen von Smart Experts und Agenten werden in Form veränderter oder neuer Daten in die Ebene der Smart Data und Rohdaten zurückgespielt. Die kontinuierliche Synchronisation schafft eine einheitliche Datenbasis und verhindert das Entstehen konfliktärer Datensätze durch manuelle Informationsverteilung. Die echtzeitfähige Selektion und Bereitstellung entscheidungsrelevanter Daten des Internet of Production „auf Knopfdruck“ steigert die Agilität im gesamten Produktlebenszyklus. Geschwindigkeit und Entscheidungsqualität abteilungsübergreifender Prozesse profitieren von der Entwicklungsphase, über die Produktionsphase bis hin zur Anwendungsphase. Technische Änderungen zählen zu den Hauptprofi teuren der Infrastruktur: Sie sind zeitkritisch, sind auf Daten unterschiedlicher Applikationssysteme angewiesen, betreff en mehrere Abteilungen und treten in allen Phasen des Produktlebenszyklus auf. Bei e.GO können alle Änderungsanfragen mit einer App in der Konstruktion eingesteuert werden. Die App erlaubt aus allen Unternehmensbereichen direkten Zugriff auf die Produktdaten des Product-Lifecycle-Management-System (PLM). Änderungs anfragen werden im PLM-System als Objekt erzeugt und dort in der Stückliste mit dem referenzierten Bauteil verknüpft. Hierdurch wird der erkannte Fehler ohne Zeitverzögerung in die Arbeitsumgebung des Konstrukteurs integriert. Im Vergleich hierzu fi ndet die Aufnahme und Kommunikation von Änderungsanfragen heute noch häufig manuell, ohne standardisierten Prozess und hauptsächlich mit papierbasierter Dokumentation statt.
Infrastruktur des Internet of Production
Internet of Production Infrastruktur: Steigerung der Agilität im gesamten Produktlebenszyklus durch echtzeitfähige Selektion und Bereitstellung entscheidungsrelevanter Daten
Über die Umsetzung oder Ablehnung einer Änderungsanfrage muss letztendlich durch ein Gremium entschieden werden. Für die Entscheidungsfindung sind neben Produktdaten aus dem PLM-System z.B. auch Betriebsdaten aus dem Enterprise-Resource-Planning-System (ERP) relevant. Bei e.GO schaff t die Filterung der Rohdaten und die aggregierte Darstellung in einem Change Cockpit Transparenz über die Entscheidungssituation und beschleunigt die Lösungsfindung. Ohne Verwendung des Internet of Production fehlt hingegen eine aggregierte Entscheidungsgrundlage. Wegen der fehlenden Transparenz zieht sich der Änderungsprozess in die Länge und die Entscheidungsqualität leidet.
„Die fehlerfreie und schnelle Abwicklung von technischen Änderungen „auf Knopfdruck“ spiegelt wie kaum ein anderer Unternehmens prozess die Agilität produzierender Unternehmen wieder.“
Für die physische Umsetzung der geänderten Konstruktion bedarf es schlussendlich einer Bereitstellung von Produkt- und Prozessdokumenten in der Produktion: Z.B. in Form von Teilelisten oder Arbeitsanweisungen. Bei e.GO kommen Appbasierte 3D-Montageanleitungen zum Einsatz. Die Anleitungen beruhen auf Konstruktionsdaten aus dem CAD-System (Computer-Aided-Design) und Arbeitsanleitungen aus dem ERP-System. Die relevanten Informationen werden papierlos und zeitsynchron in die Montage übermittelt, die intuitive Darstellung beschleunigt den Anlernprozess des Monteurs. Im Vergleich hierzu werden konventionelle Arbeitsanweisungen in Papierform oft zeitverzögert bereitgestellt. Konventionelle Anweisungen weisen zusätzlich einen Informationsüberfluss auf, was die physische Herstellung des geänderten Produkts verzögert. Der Änderungsprozess illustriert: Das Internet of Production beschleunigt und schont Ressourcen. Neben der Engineering Kompetenz brauchen wir eine zunehmende Entwicklung systemischer Kompetenz. Aus Engineering Kompetenz mit Tiefgang wird systemische Kompetenz mit Geschwindigkeit. Aus dem Spezialist Deutschland wird ein Engineering Valley. Das Internet of Production hat das Potenzial, den Weg hierhin zu ebnen.
Prof. Dr.-Ing. Günther Schuh
Werkzeugmaschinenlabor
WZL der RWTH Aachen
Dieser Beitrag ist Teil der Ausgabe des Handelsblatt Journals „Die vernetzte Industrie“ das Sie hier erhalten können.