
Wirtschaft und Gesellschaft müssen zu neuen Ufern aufbrechen. Als Treiber braucht es eine einigende Vision: die Transformation zur Kreislaufwirtschaft.
von Markus Steilemann
Durch Deutschland müsse ein Ruck gehen, mahnte vor fast einem Vierteljahrhundert der damalige Bundespräsident Roman Herzog. Inzwischen scheint die Nation wachgerüttelt, einschneidende Veränderungen lassen jedoch weiter auf sich warten. Aus dem Reformstau ist eine Sklerose geworden. Das viertgrößte Industrieland der Erde muss aber endlich zeigen, was in ihm steckt: raus aus dem digitalen Mittelmaß und beim Klima- und Umweltschutz an die Spitze der Bewegung. Es ist höchste Zeit, eine wirklich nachhaltige Zukunft zu zimmern, die Naturerhalt, Wohlergehen und Wertschöpfung verbindet.
Die gute Nachricht: Deutschland hat absolut das Zeug dazu, zumindest technologisch. Viele große und kleine Unternehmen, Wissenschaftler, Tüftler und Financiers warten mit nachhaltigen Ideen, Projekten und Produkten auf – von A wie Agrar, beispielsweise mit vertikalen Farmen, bis Z wie Zement, wo man unter anderem auf das Abscheiden und Nutzen von CO2 setzt. Nahezu alle Sektoren müssen sich dabei quasi selbst neu erfinden. Das gilt vor allem für die Industrie, die mit rund 190 Millionen Tonnen fast ein Fünftel der deutschen Treibhausgasemissionen des Jahres 2020 ausmacht. Um den Weg in die Klimaneutralität zu ebnen, muss der Sektor aber letzten Ende nahezu fossilfrei produzieren – weg von Kohle und Öl, hin zu sauberer Energie und grünen Rohstoffen.
Wegbereiter der Klimaneutralität
Ganze Branchen haben hier ambitionierte, langfristige Umbauprojekte, zahlreiche Unternehmen stehen in den Startlöchern. Riesige Investitionen, mutige Entscheidungen und langer Atem sind gefragt. Die Chemieindustrie etwa hat eine klare „Roadmap“ vorgelegt, um bis 2050 klimaneutral zu werden. Das wird teuer – rund 45 Milliarden Euro zusätzlich allein für sechs Kernprodukte. Auch der Strombedarf der Branche schnellt in die Höhe und würde ab Mitte des kommenden Jahrzehnts sogar jährlich die Gesamtmenge an Elektrizität übersteigen, die 2018 in ganz Deutschland produziert wurde.
Indes, es fehlt an den nötigen Rahmenbedingungen. Die immensen Mengen an preiswertem, sicher verfügbarem Grünstrom zum Beispiel sind derzeit weit und breit nicht in Sicht. Aber wann, wenn nicht jetzt ist der Moment, bei der Energiewende und all den anderen Großvorhaben den Turbo zu zünden? Wir brauchen ganz konkrete, realitätsnahe, pragmatische Fahrpläne – es schlägt die Stunde der Politik.
Vor allem aber brauchen wir einen gesamtgesellschaftlichen Konsens, eine mitreißende große Idee, um die Einzelinitiativen, die Ideen und Initiativen und die vielerorts spürbare Aufbruchstimmung zu bündeln.Diese einigende Vision ist für mich das Konzept der Kreislaufwirtschaft. Sie ist der Schlüssel zur Klimaneutralität, für den Schutz und die Wiederherstellung der Umwelt und zur Schonung der natürlichen Ressourcen, deren Raubbau die Erde jedes Jahr mehr an die Grenzen ihrer Regenerationsfähigkeit bringt.
Grundlegende Transformation
Zirkularität bedeutet eine fundamentale Transformation: Wir müssen der überkommenen Linearwirtschaft, die auf einmalige Nutzung ausgerichtet ist, den Rücken kehren. Herstellen, verbrauchen, wegwerfen – das bisherige Prinzip führt nur immer tiefer in die Sackgasse. Ich bin überzeugt: Mit konsequenter Kreislaufführung wird es uns gelingen, wirklich nachhaltige Verhaltens-, Konsum- und Produktionsweisen einzuführen. Es gilt, Güter von vornherein kreislauffähig zu machen. Wir müssen sie lange und öfter verwenden. Mehr reparieren. Abfall vermeiden.
Und, vor allem, Kohlenstoff im Kreis führen, statt ihn in die Luft jagen. Das gelingt, indem wir das ABC der erneuerbaren Rohstoffe nutzen: Abfall, Biomasse und CO2. Hier stehen wir freilich noch recht am Anfang: Insgesamt liegt der Anteil aller zirkulär eingesetzten Ressourcen am gesamten Verbrauch in Deutschland bei rund zwölf Prozent, ziemlich genau im EU-Durchschnitt.
Wenn Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent werden soll und Deutschland seine besonders ambitionierten Klimaziele verwirklichen will, muss hier aber noch mehr kommen. Wir sollten die zirkuläre Wirtschaft zur tragenden Säule der industriellen Wertschöpfung ausbauen; nicht zuletzt, um eine sichere Rohstoffversorgung hierzulande und in Europa zu gewährleisten.
Dann hat Deutschland die Chance, zum weltweit gefragten Standort für nachhaltige Technologien zu werden, mit einer zukunftsgerichteten, starken Industrie. Damit die Kreislaufwirtschaft nicht nur eine geniale Idee ist, sondern zum neuen globalen Leitprinzip wird.
Wir sollten die zirkuläre Wirtschaft zur tragenden Säule der industriellen Wertschöpfung ausbauen.
Markus Steilemann, CEO, Covestro
Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „Finance“ erschienen.
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