Wohin entwickeln sich die Netze?

Stromnetze als Achillesferse der Energiewende

Ein System im Umbruch

Ein Gastbeitrag von Dr. Ulrike Baumgartner-Gabitzer, Vorstandsvorsitzende, Austrian Power Grid AG (APG)

Das Thema Energiewende steht nach wie vor im Zentrum des öffentlichen Diskurses. Ende Juli hat das europäische Generationenprojekt einen weiteren Schub bekommen: Auch Frankreich hat sich nun der fundamentalen Änderung seines Energiesystems verschrieben.

Die französische Nationalversammlung stimmte für das Gesetz über die „Transition énergétique“. Nach einer Prüfung durch den Verfassungsrat soll das Gesetz im September 2015 verkündet werden. Mit der Grande Nation hat nun ein weiteres europäisches Mitgliedsland ein ambitioniertes energiepolitisches Programm beschlossen. Bis 2025 soll nur noch die Hälfte des französischen Stroms aus Atomkraftwerken kommen. Parallel dazu sollen die Erneuerbaren Energien wie Wind und Sonne, einen höheren Stellenwert bekommen. Mit 400 Millionen Euro soll der Ausbau erneuerbarer Energien gefördert werden. Im Jahr 2030 sollen 32 Prozent des französischen Endenergieverbrauchs aus erneuerbaren Energien kommen. Der fossile Endenergieverbrauch soll bis 2030 um 30 Prozent verringert werden und auch bei der Reduktion des Energieverbrauchs werden sehr ehrgeizige Ziele skizziert. Parallelen zur deutschen Energiewende sind zu erkennen. Die Auswirkungen auf das gesamteuropäische System bleiben abzuwarten.

Die Begleitsymptome der Energiewende sind insbesondere für Stromübertragungsnetzbetreiber eine immense Herausforderung. Denn auch wenn der Umbau der Energiesysteme gegenwärtig in erster Linie nationalpolitisch gedacht und ausgestaltet wird, darf nicht vergessen werden, dass der Weg hin zu einem klimaschonenden, nachhaltigen Energiesystem in einen europäischen Kontext eingebettet ist. Veränderungen des Energiesystems in einem Land haben entsprechende Auswirkungen auf alle anderen Mitgliedsstaaten. Das Stromnetz muss den neu entstehenden, verbraucherfernen Erzeugungsstandorten folgen und für einen großräumigen Stromhandel und -transport dimensioniert werden. Für den Netzbetrieb dringend notwendige konventionelle Kraftwerke werden aus dem Markt gedrängt – Kraftwerksreserven müssen gesichert werden, um die Situation beherrschbar zu halten. Überschüssiger Strom, der sehr kurzfristig beispielsweise in windstarken Zeiten in einem Land produziert wird, muss im selben Moment über die Grenzen transportiert werden. Die europäischen Übertragungsnetzbetreiber müssen also ihre „Hardware“, die physischen Assets, an die veränderte Situation anpassen. Verzögerungen bei den Genehmigungsverfahren von Leitungsprojekten führen jedoch dazu, dass sich das System asynchron entwickelt. Neue erneuerbare Erzeugungsanlagen können schneller errichtet werden, als die dringend dafür nötige Netzinfrastruktur. Widrigkeiten, die derzeit das Kerngeschäft der Übertragungsnetzbetreiber stark prägen.

Durch den beträchtlich steigenden Anteil an schwankender Stromproduktion nimmt auch der kurzfristige Handel von Strom am Großhandelsmarkt immer stärker zu. Zunehmend flexiblere Vermarktungsmöglichkeiten werden erforderlich – eine zunehmende Liquidität verlangt eine immer kurzfristigere Beschaffung. Auch der Netzbetrieb wird aufgrund dieser Entwicklungen immer anspruchsvoller. Und last, but not least, darf nicht vergessen werden, dass wir noch einen zentralen Punkt auf der energiepolitischen Agenda offen haben: das Fertigstellen eines vollständig integrierten, europäischen Strombinnenmarktes. Derzeit regional gestaltete Märkte müssen – mit einiger Kraftanstrengung – zu einem gesamteuropäischen Strommarkt zusammengeführt werden. Damit wird sich auch das Rollenbild der Übertragungsnetzbetreiber weiterentwickeln. Die Handlungsfelder werden in Zukunft immer stärker im Bereich der „Software“ liegen. Systemdienstleistungen und das Systemmanagement werden eine zunehmende Bedeutung einnehmen. Die „Software“, also die Intelligenz von Steuerungs- und Monitoringsystemen, neue, innovative Services für die Teilnehmer des europäischen Strommarktes werden noch deutlicher die Aufgaben der Übertragungsnetzbetreiber dominieren und noch stärker den Weg hin zu einem Infrastrukturdienstleister skizzieren. Die Informationstechnologie wird eine unserer entscheidendsten Disziplinen sein, um den Anforderungen an die Flexibilität, die Reaktionsfähigkeit des Systems und das sich vervielfachende Datenvolumen erfolgreich begegnen zu können.

Die Zukunft des europäischen Energiesystems lässt also keinen Stein auf dem anderen. Die tiefgreifende Metamorphose des Energiesektors wird jedoch durch die Energiewende noch lange kein Ende gefunden haben. Gerade durch die Zunahme von erneuerbaren Erzeugungsanlagen wird in absehbarer Zeit ein weiterer Megatrend für unsere Branche prägend sein: die Digitalisierung. Diese Entwicklung gilt es frühzeitig zu antizipieren und rasch in unserem Leistungsprogramm umzusetzen.

Dr. Ulrike Baumgartner-GabitzerSeien Sie dabei, wenn Dr. Ulrike Baumgartner-Gabitzer am 21. Januar 2015, bei der 23. Handelsblatt Jahrestagung Energiewirtschaft 2016, gemeinsam mit drei weiteren Netzexperten über die Frage diskutiert:
Wie kann das Netz zur Hauptschlagader der Energiewende und Pulsgeber der digitalen Transformation werden?

Weitere aktuelle Artikel zur Energiewirtschaft finden Sie auch in unserem aktuellen Newsletter.

Energie-Newsletter kostenlos herunterladen.