von Dr. Hans-Jürgen Brick, Geschäftsführung Amprion GmbH
Dekarbonisierung, Digitalisierung, Dezentralisierung
In der Energiewirtschaft bleibt wenig, wie es einmal war. Unsere Branche befindet sich im Um- und Aufbruch. Es ist jedoch eine Entwicklung mit Zielkonflikten und unterschiedlichen Geschwindigkeiten – das erleben wir Übertragungsnetzbetreiber tagtäglich. Weil die erneuerbaren Energien schneller wachsen als das Netz, werden Engpässe von der
Ausnahme zur Regel. Die Kosten für die notwendigen Eingriffe in den Strommarkt liegen inzwischen im dreistelligen Millionenbereich – Tendenz
steigend. Und der Netzausbau? Von den geplanten fast 5.700 Leitungskilometern an Land sind bis heute nur wenige 100 fertiggestellt. Wie soll die Energiewende aber schneller voranschreiten, wenn der Netzausbau lahmt?
Die Suche nach den Ursachen zeigt: Ein „Ärmel hochkrempeln und loslegen“ reicht allein nicht aus. Es gibt auch kein Patentrezept, um Zweifel und Spannungsfelder auszuräumen. Wir brauchen einen umfassenden Ansatz. Eine Formel, die wir von Fall zu Fall immer wieder umstellen und mit neuen Werten füllen müssen: Technik + Transparenz + Teilhabe = Toleranz.
Mut zu neuen Lösungen, keine Innovationen um jeden Preis.
Die Energiewende ist nicht nur das größte Infrastrukturprojekt seit der Wiedervereinigung, sondern auch das größte volkswirtschaftliche Innovationsprojekt. Die Technik ist einer ihrer
wesentlichen Treiber und Erfolgsfaktoren. Auf das Übertragungsnetz bezogen bedeutet das: Mut zu neuen Lösungen, aber keine Innovationen um jeden Preis. Ob nun Erdkabel oder Kompaktmasten – wir müssen den Einsatz von Technologien klug abwägen, damit wir die hohe Sicherheit und Verfügbarkeit unseres Netzes nicht gefährden.
Klar ist aber auch: Je mehr Technologien wir in unseren Werkzeugkasten legen, desto mehr Spielräume haben wir, um bürgerfreundliche regionale Lösungen zu finden.
„Große Infrastrukturprojekte betreffen viele Menschen. Daher ist es nur legitim, dass es einen Ausgleich zwischen den Anforderungen der Technik und den Interessen der Bürger geben muss.“
Fügen wir der Technik nun Transparenz und Teilhabe hinzu. Beim Anblick der vielen Ordner in einem öffentlich-rechtlichen Genehmigungsverfahren verschlägt es den meisten Bürgern den Atem. Oft finden sich nur erfahrene Juristen und Ingenieure hierin zurecht. Begriffe wie „Raumwiderstand“ der „Schutzgut Mensch“ stehen für ein hochspezialisiertes System. Expertentum sowie Vorschriften und Paragrafen sind unumgänglich, um Projekte rechtssicher zu realisieren. Sie tragen allerdings nur bedingt dazu bei, Transparenz zu schaffen oder Teilhabe zu ermöglichen.
Teilhabe ist in einer Demokratie unverzichtbar. Große Infrastrukturprojekte betreffen viele Menschen. Daher ist es nur legitim, dass es einen Ausgleich zwischen den Anforderungen der Technik und den Interessen der Bürger geben muss. Doch wie kann dies gelingen? Hier stehen wir als Übertragungsnetzbetreiber in der Verantwortung – gemeinsam mit Politik und Behörden. Wir müssen den Lauf der Genehmigungsverfahren erklären und Entscheidungsspielräume offen kommunizieren. Und wir müssen den Bürgern neue, ergänzende Dialog- und Beteiligungsformate anbieten.
Leistungsfähigkeit des Industriestandorts Deutschland
Auf diesem Gebiet haben wir Übertragungsnetzbetreiber in den vergangenen Jahren dazu gelernt und werden uns weiter öffnen. Doch auch Teilhabe hat Grenzen. Über die Gesetze der Physik können wir nicht abstimmen und über Risiken von Technologien nicht verhandeln. Außerdem dürfen wir mit Blick auf die Leistungsfähigkeit des Industriestandorts Deutschland die Sicherheit und Kosten der Stromversorgung nicht aus den Augen verlieren.
Technik + Transparenz + Teilhabe = Toleranz. Warum nicht Akzeptanz? Die gibt es zwar für die
Energiewende und die damit verbundenen langfristigen Ziele. Umstritten ist jedoch, wie wir dieses volkswirtschaftlich und gesellschaftlich komplexe Vorhaben konkret umsetzen – zumal sich die Lösungswege unterscheiden und zum Teil sogar konkurrieren. Aus diesen unterschiedlichen Ansätzen müssen wir Ideen und Erfahrungen in das Generationenprojekt Energiewende einspeisen. Wenn wir gemeinsam daraus lernen wollen, brauchen wir die Toleranz, andere Auffassungen zu achten. Und wir brauchen ein stabiles und sicheres Stromnetz als Basis. Für uns als Übertragungsnetzbetreiber heißt das: Wir werden die Möglichkeiten innovativer Übertragungstechnologien ausschöpfen, Entscheidungen und Erfahrungen transparent kommunizieren sowie Teilhabe anbieten. Dies ist der Boden, auf dem die Toleranz und dann auch die Akzeptanz für den Netzausbau wachsen können.
Den Beitrag von Dr. Hans-Jürgen Brick finden Sie auch in der Januar-Ausgabe des
Handelsblatt Journal Energiewirtschaft, das Sie
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Die Fachbeilage bietet Ihnen viele spannende Beiträge –
Autoren sind u. A.:
- Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und Energie
- Prof. Dr. Marc Oliver Bettzüge, Direktor EWI Universität Köln
- Peter Terium, CEO RWE AG
- Dietmar Dahmen, Creative Consultant
- Dr. Hans-Jürgen Brick, Geschäftsführung Amprion GmbH
- Urban Keussen, CEO TenneT TSO GmbH
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