Niedrigere Netzentgelte – ein politischer Selbstbetrug

sinkende Netzentgeldte

Dr. Christoph Müller, Vorsitzender der Geschäftsführung, Netze BW GmbH

In einer Glosse „Über wahnsinnige Stromrechnungen“ im Zeit-Magazin vom Januar 2013 regte sich Harald Martenstein über seine Stromrechnung auf. Wortgewaltig schimpfte er über die ausufernde Abgabenwut. § 19-StromNEV-Umlage, KWK-G-Umlage, EEG-Umlage, Offshore-Haftungsumlage, Stromsteuer, etc. pp. Hinter all dem sah er Abgabenfetischisten am Werk, die sich in einem überheizten stillen Kämmerlein immer neue Abgaben ausdenken, um die Stromkunden in den Wahnsinn zu treiben.

Auch die Debatten um die Netzregulierung haben in ihrer Detailverliebtheit und fachlichen Tiefe manchmal Glossenpotential.
Geprägt sind sie im Jahr 2015 von der Reform der Anreizregulierungsverordnung. Ein mehr oder weniger offen kommuniziertes Ziel ist dabei, die Belastungen für die Netzkunden zu reduzieren, d. h. um jeden (?!) Preis sinkende Netzentgelte zu erreichen. Die Verschärfung des Benchmarks, die Fortschreibung des allgemeinen X-Faktors und die möglichst zeitverzögerte Wälzung des immer weiter steigenden Investitionsbedarfs – alles Punkte des Eckpunktepapiers vom Frühjahr 2015, um bei steigenden Anforderungen aus Energiewende und Marktentwicklung trotzdem sinkende oder weniger stark steigende Netzentgelte zu erreichen. In der Veröffentlichungspflicht für „Kleinstörungen“ schwingt dabei schon die Sorge von erodierenden Infrastrukturen mit.

Wie sich die Netzbetreiber auf Regulierungsänderungen anpassen, ist offen. Sicher ist, dass sie es tun werden. Die Konsequenzen wird man nur über viele Jahre beobachten können, was spannend sein wird. Weil aber in der Politik keiner gerne der Martenstein‘sche Abgabenfetischist ist, wird man eines sehr wahrscheinlich nicht beobachten: sinkende Netzentgelte. Denn viel angenehmer als eine weitere neue Energiewenden-Umlage ist es, die Finanzierung der diversen notwendigen Themen und/oder politischen Hobbys über die Netzentgelte vorzunehmen. Bei den Netzentgelten gibt es einen etablierten Weitergabemechanismus, der im Zweifel durch gesetzlich erlaubte Ansätze von Plankosten auch einen Turbo-Boost bekommen kann. Für die Netzkosten gibt es keine Veröffentlichungspflichten und so gehen die Kosten neuer politischer Maßnahmen ungesehen und unbeachtet in den Netzkosten auf. Herr Martenstein schimpft vielleicht noch über die Höhe – da über diese aber am Ende die Bundesnetzagentur wacht, ist diese auch politisch als „muss so in Ordnung sein“ argumentierbar.

Von der Kostenwälzung über die Netzentgelte wird mittlerweile umfassend Gebrauch gemacht. Konkrete Zahlen sind nur wenige veröffentlicht, aber Schätzungen sind möglich. Was wird also aktuell über die Netzentgelte gewälzt, obwohl es nicht originäre Netzkosten im klassischen Sinne sind? Da sind zum Ersten die Kosten für vermiedene Netzentgelte für EEG-Anlagen i. H. v. rund 750 Mio. €. Aufgrund des nicht belastbaren Leistungsbeitrags senken diese vermiedenen Netzentgelte nur die EEG-Umlage, nicht aber die Netzkosten. Weitere grob 750 Mio. € werden zurzeit für den Offshore-Netzanschluss pro Jahr bezahlt. 133 Mio. € pro Jahr kosten die Redispatch-Maßnahmen, 122 Mio. € die Reservekraftwerke und 44 Mio. € das EEG-Einspeisemanagement. Schließlich kommen noch rund 10 Mio. € für die Systemstabilitätsverordnung dazu – hier ist die versteckte Wälzung über die Netzentgelte besonders schade, denn eine „Systemstabilitätsabgabe“ hätte natürlich besonderen Charme. Wer wollte da dagegen sein?

In Summe sind das rund 1,8 Mrd. € – da einige Positionen durchaus Wachstumspotential haben, wird die 2 Mrd. € Marke wohl in naher Zukunft erreicht werden. In der Gesamtsicht der Netzentgeltkalkulation sind das wesentliche Beträge – 2 Mrd. € pro Jahr reichen überschlägig aus, um den für die Energiewende notwendigen Verteilnetzausbau zu finanzieren (20 Mrd. € nach dena). Mit dem beschlossenen Höchstspannungsnetzausbau über Verkabelung kommen zudem noch neue große Kostenblöcke dazu. In dieser Gesamtlage sind sinkende Netzentgelte nicht erreichbar. Wer eine Anreizregulierungsreform mit diesem politischen Ziel angeht, muss scheitern. Bei den Netzentgelten wird das schnell offensichtlich werden, bei der Netzinfrastruktur nur über Jahrzehnte. Die Langsamfahrstellen im Schienennetz oder eine der vielen „Schiersteiner Brücken“ im Land lassen grüßen. Vielleicht kommt dann ja doch eine Systemstabilitätsabgabe.

Dr. Christoph MüllerVerpassen Sie nicht den Impulsvortrag von Dr. Christian Müller zum Thema „Die „Energie“-Welt in 2030 – wie passen die aktuellen energiepolitischen Entwicklungen in Deutschland und Europa zu diesem Bild?“, am 20. Januar 2015, bei der 23. Handelsblatt Jahrestagung Energiewirtschaft 2016.

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