Klimaneutralität als industriepolitische Chance

Neue Allianzen können den Klimaschutz voranbringen – wenn bei der Umsetzung der politischen Initiativen Vertrauen aufgebaut wird.

von Prof. Dr. Veronika Grimm

Mit dem Bekenntnis zur Klimaneutralität im Jahr 2050 hat sich ein Knoten in der Energie- und Klimapolitik gelöst. Klar ist nun: Wir brauchen die direkte Elektrifizierung ebenso wie klimaneutralen Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe – und zwar auf ambitionierten Zeitschienen. Wir stehen am Anfang einer umfassenden Transformation der Industrie. Neue Wertschöpfungsketten werden entstehen, zum Beispiel um grünen Wasserstoff zu erzeugen, zu transportieren und in verschiedenen Anwendungen in der Industrie oder der Mobilität zu nutzen.

Langfristig werden wir erneuerbare statt fossiler Energieträger importieren. Der globale Handel mit klimaneutralen Energieträgern und Produkten wird zur Verschiebung von Wertschöpfungsketten führen. Länder, in denen erneuerbarer Strom besonders günstig und viele Stunden im Jahr verfügbar ist, werden komparative Vorteile haben. Regionen mit einer hohen Technologiekompetenz – wie Deutschland und Europa – werden von der Transformation profitieren können, indem sie Schlüsselkomponenten für den Aufbau der neuen Wertschöpfungsketten in alle Welt liefern: zum Beispiel Elektrolyseure, Logistiklösungen, Fahrzeuge und Brennstoffzellen.

Eine CO2-basierte Energiepreisreform erfüllt eine wichtige Koordinationsfunktion
Die EU und auch Deutschland haben unter anderem mit dem Green Deal, dem Klimapaket und den Wasserstoffstrategien politische Initiativen auf den Tisch gelegt, um die Klimaneutralität im Jahr 2050 zu erreichen und gleichzeitig bei der anstehenden Neuordnung der globalen Wertschöpfung einen großen Teil vom Kuchen abzubekommen. Ob das gelingt, hängt nun entscheidend von der Umsetzung ab. Die EU-Kommission rechnet bis 2030 mit einem Investitionsbedarf von 2,6 Billionen Euro. Es muss dabei im Wesentlichen um die Mobilisierung privaten Kapitals für die Transformation gehen. Öffentliche Mittel können zwar zielgerichtet unterstützen, etwa durch die Förderung des Infrastrukturausbaus, der Forschung und durch Investitionen in die Ausbildung der Fachkräfte von morgen. Die wesentliche Rolle aber werden die Rahmenbedingungen spielen, die das Investitionsumfeld für die Unternehmen entlang der Wertschöpfungsketten prägen. Der Weg in Richtung Klimaneutralität erfordert die Koordination der Aktivitäten einer großen Zahl sehr unterschiedlicher Akteure. Einzelne Glieder komplexer neuer Wertschöpfungsketten werden unabhängig voneinander – aber eben doch gleichzeitig – entstehen müssen, damit am Ende jedes beteiligte Unternehmen auch ein profitables Geschäftsmodell hat. Investitionen in die Produktion von Fahrzeugen machen etwa nur Sinn, wenn perspektivisch auch die Infrastruktur zum Laden oder zur Betankung existiert und umgekehrt. Auch wenn an verschiedenen Stellen anfangs eine Förderung notwendig ist, müssen die Aktivitäten doch mittelfristig wirtschaftlich sein. Die Herausforderung der Koordination aller Akteure erhöht die Dringlichkeit, starke marktorientierte Anreize zu etablieren.

CO2-Preise, die in allen Sektoren vorhersehbar ansteigen, generieren einen Vorteil klimaneutraler Geschäftsmodelle gegenüber ihren fossilen Alternativen. Ihre Einführung in allen Sektoren sollte einhergehen mit einer möglichst weitgehenden Befreiung der Energiepreise von verzerrenden Abgaben und Umlagen sowie der konsequenten Abschaffung der direkten und indirekten Subventionen fossiler Energieträger. Ein Wegfall staatlich induzierter verzerrender Abgaben und Umlagen beim Strompreis ist beispielsweise geeignet, sowohl die Haushalte als auch die Unternehmen zu entlasten und so die Belastungen durch die Einführung der CO2-Bepreisung in den Sektoren Wärme und Mobilität ab 2021 zu kompensieren. Gleichzeitig würden die Anreize für Investitionen in die Sektorenkopplung gestärkt. Die Nutzung des zunehmend klimaneutralen Stroms für die Mobilität, zur Wärmeerzeugung und in der Industrie würde also attraktiver.

Schon die Erwartung steigender CO2-Preise mobilisiert Investitionen
Derartige Maßnahmen wirken schon dann, wenn sie beschlossen werden, und nicht erst, wenn sie implementiert sind. Denn Investitionsentscheidungen werden von den Erwartungen über das zukünftige Marktumfeld getrieben, nicht etwa von heutigen Rahmenbedingungen. Auch das Koordinationsproblem entlang der Wertschöpfungsketten dürfte weitaus geringer ausfallen. Denn jeder Investor weiß, dass auch andere Entscheidungsträger eine Stärkung marktorientierter Anreize antizipieren und kann somit darauf vertrauen, dass auch sie vorausschauend investieren und so die entscheidenden Wertschöpfungsketten entstehen. Schon die Erwartung eines attraktiven, berechenbaren Marktumfelds wird also die entscheidende Dynamik auslösen. Eine Fülle von spezifischen Förderprogrammen hingegen, wie sie heute auf der Tagesordnung stehen, sind beim Aufbau zukünftiger komplexer Wertschöpfungsketten zum Scheitern verurteilt. Die Programme müssen immer erst aufgesetzt werden, damit sich einzelne Konsortien um eine Förderung bewerben können. Erst dann wird investiert – das kostet wertvolle Zeit. Darüber hinaus steht die zukünftige Wirtschaftlichkeit geförderter Vorhaben sogar langfristig in Frage. Entweder, weil gegen ungünstige Rahmenbedingungen angefördert wird, oder weil wichtige Teile der Wertschöpfungsketten nicht in anderen geförderten Projekten simultan entstehen. Es ist ja keineswegs sichergestellt, dass sich komplementäre Geschäftsfelder, gestützt durch Förderprogramme, auf ähnlichen Zeitachsen entwickeln. Auch das regulatorische Risiko ist immens, weil eine zukünftige Regierung den Fokus durchaus verschieben könnte. Die Gefahr ist daher groß, dass über Jahre viel Geld ausgegeben wird, sich aber dennoch keine Dynamik entfaltet. Wir befinden uns aber in einem globalen Wettlauf um die führende Rolle bei der Produktion von Schlüsselkomponenten einer klimaneutralen Welt – seien es Brennstoffzellen, Fahrzeuge oder Logistikkomponenten. Es besteht die Gefahr, durch Verzögerungen beim Hochlauf der Geschäftsfelder zum Beispiel gegenüber ostasiatischen Ländern ins Hintertreffen zu geraten. Eine konsequente Strompreisreform ist finanzierbar Eine konsequente Anpassung des Rahmens scheitert mittlerweile weniger an unterschiedlichen Vorstellungen verschiedener Stakeholder vom richtigen Zielbild, als vielmehr an der Umsetzung. Will man zum Beispiel, um die Sektorkopplung attraktiver zu machen, den Strompreis von der EEG-Umlage und der Stromsteuer befreien – ein Ansinnen, das heute breit auf Zustimmung stößt –, so sind mehr als 30 Mrd. Euro pro Jahr zu refinanzieren. Ein jährlich zunehmender Beitrag könnte aus den Einnahmen der steigenden CO2-Preise in den Sektoren Wärme und Verkehr kommen, aber es bliebe ein Fehlbetrag von 20 Mrd. Euro im Jahr 2023 (2026 noch ca. 10 Mrd. Euro) stehen. Wie dies zu stemmen ist, da scheiden sich die Geister. Manch einer mag angesichts der hohen Summen erst gar nicht nachdenken. Andere führen eine Anhebung der CO2-Preise ins Feld, die klimapolitisch wohl sinnvoll wäre, aber Unternehmen und Haushalte eben auch schneller noch stärker belasten würde. Man könnte auch durchaus dafür plädieren, einen Teil über den Haushalt zu finanzieren und im Gegenzug dort Einsparungen vorzunehmen, wo es dann nicht mehr nötig wäre, gegen bestehende Fehlanreize anzufördern.

Neue Allianzen im Klimaschutz
Mehrere Fliegen mit einer Klappe könnte man schlagen, wenn zur Refinanzierung einer Strompreisreform verschiedene direkte oder indirekte Subventionen fossiler Energieträger abgebaut würden, die insgesamt laut Schätzungen um die 50 Mrd. Euro jährlich betragen. So würde einerseits die Wettbewerbsfähigkeit klimaneutraler Geschäftsmodelle generell weiter gestärkt. Zudem profitieren oft direkt oder indirekt genau die Unternehmen von den Subventionen, die sich heute auch große wirtschaftliche Chancen aus der Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft versprechen. Sie könnten somit, indem sie entsprechende Anpassungen aktiv unterstützen, ihre Glaubwürdigkeit erhöhen und so mehr gegenseitiges Vertrauen innerhalb der neuen Allianzen schaffen, die wir in der Gesellschaft benötigen, um den Klimaschutz voranzubringen. Denn Klimaschützer und die Industrie haben zunehmend gleichgerichtete Interessen auf dem Weg in die Zukunft – manch eine oder einer muss das erst noch begreifen. ■

Prof. Dr. Veronika GrimmVon: Prof. Dr. Veronika Grimm,
Professorin für Volkswirtschaft, FAU Erlangen-Nürnberg,
und Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung
der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung