
„Beim Ausbau der Energienetze dürfen sich Fehler nicht wiederholen“
Die Stromverteil- und Wasserstoffnetze sind die Lebensadern einer CO2-neutralen Zukunft. Ihr Ausbau erfordert immense Investitionen. Die neue Bundesregierung muss dafür die richtigen Anreize und Regulierungen schaffen.
E.ON konzentriert sich auf die Infrastruktur für die Energiewende. Sie haben die Infrastruktur als den „am meisten unterschätzten Teil der Energiewende“ bezeichnet. Was ist dabei die größte Herausforderung?
Allein für den Ausbau der Verteilnetze in Deutschland benötigen wir mehr als 110 Milliarden Euro. Das haben wir in einer Studie durchrechnen lassen. Wohlbemerkt, es waren die Investitionen, die wir für Klimaneutralität bis 2050 benötigt hätten. Nun wurde das Klimaziel fast schon beiläufig auf 2045 vordatiert. Der Investitionsdruck war schon vorher immens, jetzt ist die Herausforderung noch größer! Die Energienetze sind die essenzielle Infrastruktur einer CO2-neutralen Zukunft. Hier dürfen sich Fehler, die es beim Aufbau anderer Infrastruktur in Deutschland gegeben hat, nicht wiederholen. Wir brauchen die Investitionen so schnell wie möglich. Und wir müssen fertig werden, bevor wir in Engpässe laufen. Sonst verspielen wir das Ziel 2045 schon jetzt, oder wir erreichen es nur zu unvertretbar hohen volkswirtschaftlichen Kosten. Ausreichende Investitionen setzen aber einen international wettbewerbsfähigen Regulierungsrahmen voraus. Und den haben wir schlichtweg nicht. Dafür gibt es aber jede Menge bürokratische Hürden, die es dringend abzubauen gilt: Ich kenne Beispiele, bei denen es bis deutlich über zehn Jahre gedauert hat, eine neue Leitung zu bauen.
Um die deutsche Wirtschaft bis zum Jahr 2045 klimaneutral umzustrukturieren sind gigantische Mengen an erneuerbaren Energien erforderlich, auch für die Produktion von grünem Wasserstoff. Können wir bis dahin die für die Verteilung erforderliche Infrastruktur überhaupt aufbauen?
Ja, können wir. Und wenn wir die Ziele erreichen wollen, müssen wir das auch können. Wir brauchen grünen Wasserstoff, um unsere nationalen und europäischen Klimaziele und insbesondere eine vollständige Dekarbonisierung bis zur Mitte des Jahrhunderts zu erreichen. Und wir müssen schnell und effizient die nötige Infrastruktur dafür schaffen. Dies ist entscheidend für die Frage, ob wir Deutschland zu einem Leitmarkt für grünen Wasserstoff entwickeln können. Wir brauchen Anreize, um in den Bau von Wasserstoffnetzen und den Umbau unserer Gasnetze zu investieren. Schon heute klopfen viele Unternehmen bei uns an, die ihre Klimabilanz bei Wärmeanwendungen verbessern wollen. Deshalb sollte die Bereitstellung von Infrastruktur unterstützt sowie die Herstellung von grünem Wasserstoff gefördert und gleichzeitig so einfach wie möglich gemacht werden.
Setzt die aktuelle Form der Netzregulierung eigentlich die richtigen Anreize für eine schnelle Energiewende?
Ganz klar nein, da besteht dringender Handlungsbedarf für die neue Bundesregierung. Sie muss die überragende Rolle der Stromverteilnetze in allen energiepolitischen Szenarien künftig deutlich stärker in den Vordergrund rücken. Sie muss einen Regulierungsrahmen schaffen, der die steigende Aufgabenlast und die Risiken bei den Netzbetreibern anerkennt und dafür Sorge trägt, dass Unterinvestitionen ins Netz unter allen Umständen vermieden werden. Die vor uns liegenden Herausforderungen wie die Dekarbonisierung der Industrie, der Hochlauf der Elektromobilität, die Kopplung mit den Sektoren Wärme und Verkehr – all das schaffen wir nur mit enormen Investitionen in die Stromverteilnetze und in ihre Digitalisierung. Die Politik muss jetzt die Weichen auf Wachstum in den Energienetzen stellen, damit für die Gesellschaft und Wirtschaft die Energieversorgung in Deutschland sicher und bezahlbar bleibt.
Die Flutkatastrophe hat auch ihre Netzstationen unter Wasser gesetzt, Wettereffekte belasten verstärkt die Erzeugung von Ökostrom, sie wird noch schwerer planbar. Wie können wir die Energieversorgung vor derartigen direkten Wetterfolgen schützen?
Ich bin sehr stolz darauf, wie unsere Regionalgesellschaften die meisten Schäden inmitten der Überflutungsgebiete rasch zumindest provisorisch beheben konnten. Neben vielen zupackenden Händen war dabei auch digitale Intelligenz hilfreich. Die Lehren aus der Hochwasserkatastrophe helfen uns jetzt, die Krisenresilienz weiter zu verbessern. Eine fortschreitende Digitalisierung der Netze und eine robuste Telekommunikationsinfrastruktur sollen künftig die Lokalisierung von Störungen erleichtern und im Krisenfall eine raschere Lagebeurteilung ermöglichen. Das 450 Mhz-Netz, das die Energiewirtschaft aufbaut, wird uns hier unterstützen. Zudem müssen neue Anlagen schon beim Bau noch besser vor extremen Wetterereignissen geschützt werden. Bei der Planung neuer Trassen mit größerem Abstand zu Bächen und Flüssen und beim Anlagenbau selbst, etwa durch bauliche Maßnahmen, die vor Nässe schützen.
Lassen sich Schwankungen bei der Erzeugung erneuerbarer Energien überhaupt ausgleichen?
Ja, dafür sorgen Deutschlands Verteilnetzbetreiber jeden Tag aufs Neue. Durch den Einsatz von Sensorik, intelligenter Mess- und Regelungstechnik sowie Kommunikationstechnologien. Allerdings wird diese Aufgabe mit dem Voranschreiten der Energiewende auch nicht gerade leichter. Deshalb habe ich ja angemahnt, dass wir die Voraussetzungen schaffen für die so dringend benötigten Investitionen in eine intelligente Netzinfrastruktur. Allein im vergangenen Jahr entstanden in Deutschland über 1,2 Milliarden Engpassmanagementkosten. Das zeigt, wo das Problem liegt: Wir dürfen nicht nur die Klimaziele im Blick haben. Wir müssen dabei auch auf die Effizienz unseres Energiesystems und vertretbare volkswirtschaftliche Kosten schauen.
Dabei ist es immer besser, Energie zu nutzen statt sie abzuregeln. Denn den Kunden ist es nur schwer zu erklären, warum signifikante Mengen des so wertvollen Grünstroms am Ende gar nicht aus der Steckdose kommen. Den Wählerinnen und Wählern eigentlich ebenso wenig. Deshalb versteckt sich auch mancher Politiker gern hinter überflüssigen Debatten um neue Klimaziele oder verklärt die – zugegebenermaßen wichtige – Zukunftstechnologie Wasserstoff zum Allheilmittel. Dabei wird außer Acht gelassen, dass es für die Elektrolyse absehbar immense Mengen zusätzlichen Grünstrom braucht. Grünstrom, der wegen der begrenzten Flächen für Erneuerbare perspektivisch nicht allein aus Deutschland kommen kann. Und schon gar nicht, wenn wir ihn verschwenden und es verpassen, die nötige Netzinfrastruktur dafür aufzubauen.
Demnach spielt auch die Digitalisierung bei der Energiewende die entscheidende Rolle…
Die Energiewende wird erst durch die Digitalisierung beherrschbar. Und nur mit Hilfe von Daten gelingt der Spagat zwischen Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit. Denn unser Energiesystem wird mit jedem Tag nachhaltiger und dezentraler, damit aber auch komplexer und anfälliger für Schwankungen. Die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien in Deutschland hat sich allein im letzten Jahrzehnt mehr als verdoppelt. Hinzu kommt, dass die Elektrifizierung von Verkehr und Wärmewirtschaft endlich an Fahrt gewinnt. Damit wächst auch der Bruttostrombedarf: Je nach Studie von ca. 550 TWh in 2020 auf 900 bis 1.000 TWh in 2045. Die Energiewende ist also auch ein Digitalisierungsprojekt. Und deshalb wandeln wir bei E.ON schon längst nicht mehr auf alten Branchenpfaden. Wir treiben die radikale Digitalisierung voran – etwa durch Kooperationen mit innovativen Digitalstartups aber auch etablierten Branchengrößen wie Microsoft, SAP oder jüngst IBM beim Quantencomputing.
Sie haben angekündigt einen neuen digitalen Standard für die gesamte Energiewirtschaft zu entwickeln. Was bringt das für die Energiewende?
Wir können die Energiewelt von morgen nicht mit den Methoden von gestern steuern. Wir brauchen ein völlig neues, digitales „Betriebssystem“ der Energiewirtschaft. Und dieses System entsteht gerade durch die Vielzahl von Digitalisierungsprojekten, die unsere E.ON mit ihren Regionalgesellschaften und vielen Partnern vorantreibt. Einige dieser Partner habe ich gerade genannt. Dabei geht es ja längst nicht nur um die Netze, sondern zum Beispiel auch um digitale Kunden-Plattformen. Je besser das Gesamtsystem am Ende ineinandergreift, desto effizienter können wir nachhaltige Energie für alle Lebensbereiche nutzbar machen.
Die meisten deutschen Politiker haben angekündigt, die Energiewende zu beschleunigen und versprechen einen schnelleren Netzausbau und zügigere Genehmigungsverfahren. Was muss sich dafür aus Ihrer Sicht konkret ändern?
Diese Einsicht ist der erste wichtige Schritt. Der zweite ist, dass jetzt Taten folgen müssen. Und zwar schnell. Denn in der Tat: Die Energiewende braucht jetzt einen massiven Aus- und Neubau von Energieerzeugungs- und Leitungsinfrastruktur. Dem entgegenstehen aber noch immer langwierige Genehmigungsverfahren und ein ausuferndes Klagerecht. Daraus resultieren erhebliche zusätzliche Kosten für die Volkswirtschaft, die im Sinne einer effizienteren Energiewende vermeidbar wären. Die erwähnten 1,2 Milliarden Euro Engpassmanagementkosten im vergangenen Jahr wurden durch den Kunden bezahlt und konnten nicht in den notwendigen Netzausbau fließen. Für eine echte Beschleunigung des Netzausbaus müssen Planungs- und Genehmigungsprozesse konsequent digitalisiert, naturschutzrechtliche Vorgaben standardisiert sowie die ausreichende personelle und technische Ausstattung der Genehmigungsbehörden sichergestellt werden. Und ja, wir werden auch nicht darum herumkommen, Einspruchs- und Klagemöglichkeiten zu beschränken, z.B. durch Präklusionsregelungen.
Der Ausbau der Netze wird derzeit besonders von Bürgerprotesten und Bürokratie ausgebremst. Der flächendeckende Einbau von Smart Metern – wichtig für die Steuerung von Angebot und Nachfrage – verzögert sich im Vergleich mit anderen europäischen Ländern. Haben Sie Vorschläge, wie sich der Prozess beschleunigen lässt?
Bereits im Mai hatte ich vom „jämmerlichen Roll-Out der Smart Meter“ gesprochen, und dass wir uns „hierzulande zu Tode verwalten“. In Schweden etwa installieren wir monatlich mehr Smart Meter, als wir Mitte des Jahres in Deutschland insgesamt im Einsatz hatten. Wir müssen schneller und effizienter werden. Wir brauchen Rechtssicherheit, Vereinfachung der Technik und der Marktprozesse sowie eine strikte Ausrichtung auf maximalen Kundennutzen und die Ziele der Energiewende. Warum? Weil die Smart Meter ein ganz entscheidender Baustein für die Digitalisierung der Energiewende sind. Und die Digitalisierung wiederum ist der Schlüssel dafür, dass wir die Energiewende kosteneffizient und bürgernah gestalten können. Sie gibt Haushalten und Betrieben mehr Kontrolle über ihren CO2-Fußabdruck und die Energiekosten. Und dann ist auch Kritikern viel leichter erklärbar, warum gut vernetzt zu sein keine Bürde ist, sondern ein Privileg!
Die Fragen stellte Sabine Haupt