Grußwort zur neuen Ausgabe des Handelsblatt Journals ENERGIEWIRTSCHAFT von Prof. Dr. Marc Oliver Bettzüge

Am Beginn des neuen Jahrzehnts scheinen Energiewirtschaft und Energiepolitik etwas ratlos zu sein. Die Branche steckt zwischen vielen Widersprüchen – zwischen langer Frist und kurzer, zwischen politischen Ankündigungen und gesetzgeberischer Realität, zwischen technologischer Innovation und marktreifen Produkten, zwischen Ideen für neue Geschäftsmodelle und deren oft geringen Ertragspotenzialen.

Einerseits stimmen (fast?) alle dem Ziel einer klimaneutralen Gesellschaft im Grundsatz zu. Aber über die Geschwindigkeit, die Struktur eines Energiesystems ohne Ausstoß von Treibhausgasen sowie den konkreten Weg dorthin gibt es weder Einigkeit noch Klarheit. In jedem Fall passt die Geschwindigkeit der Veränderung bislang nicht zu den ehrgeizigen Zielen.

Diese Diskrepanz ist geblieben, obwohl die Politik – nach teilweise langem Streit – zentrale Weichen gestellt hat, sei es mit der Reform des europäischen Emissionshandels, mit den Beschlüssen zum Kohleausstieg und zum Klimapaket in Deutschland. Aber eine richtige Aufbruchsstimmung in Richtung neue Energiewelt fehlt immer noch. Im Gegenteil: Jede politische Maßnahme scheint zu neuen Fragen und Forderungen zu führen, welche wiederum kontrovers diskutiert werden. Im Ergebnis verzettelt sich die „Energiewende“ regelmäßig in Detailaspekten.

Verglichen mit dem exorbitanten Anspruch, das Energiesystem einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft in kurzer Zeit vollständig umzubauen, fällt die Kleinteiligkeit der realen energiepolitischen Entscheidungen zunehmend ins Auge. Es besteht offensichtlich ein Unterschied zwischen der Proklamation von „Klimaneutralität bis 2050“ in Sonntagsreden und den Kompromissformeln der politischen Ebene. Dieser Widerspruch untergräbt mehr und mehr die Glaubwürdigkeit der Energie- und Klimapolitik; nicht zuletzt die Demonstrationen von Fridays for Future machen nachdrücklich darauf aufmerksam.

„ Das gesellschaftspolitische Spannungsfeld zwischen umfassendem Anspruch und schleppender Umsetzung wird der Energiewirtschaft vermutlich auch in der neuen Dekade erhalten bleiben.“

Für diese Vertrauenskrise gibt es allerdings kein Allheilmittel. Weder kann der Staat einer radikalen, zu seinen Klimazielen passenden Energiepolitik den Vorrang geben, ohne Rücksicht auf mögliche gesellschaftliche oder wirtschaftliche Verwerfungen. Noch kann sich die Politik hierzulande von den vollmundig erklärten Zielen distanzieren, selbst wenn sie viel­leicht stillschweigend erkannt hätte, dass deren zeitgerechte Umsetzung die politischen und finanziellen Mittel des Staates überfordern könnte. Die Gesetze der politischen Kommunikation scheinen eine solche Lösung – die Annäherung von Zielrhetorik und tatsächlich verfügbaren Instrumenten – weiterhin auszuschließen. Das gesellschaftspolitische Spannungsfeld zwischen umfassendem Anspruch und schleppender Umsetzung wird der Energiewirtschaft also vermutlich auch in der neuen Dekade erhalten bleiben.

Und auch jenseits der energiepolitischen Rahmenbedingungen hat die Branche mit Widersprü­chen zwischen Vision und Wirklichkeit zu kämpfen. Das imaginierte Bild von der Energiewirtschaft der Zukunft ist seit Jahren eines von einer durch und durch digitalisierten, vernetzten Branche, wel­che voll ist von neuen elektrischen Anwendungen – vor allem im Mobilitätssektor –, und die geprägt wird von einer Vielzahl profitabler, neuer Geschäftsmo­delle. In der Realität hat sich diese Zukunft bislang allerdings höchstens ansatzweise materialisiert. Und die wenigsten Unternehmen, die sich daran versucht haben, konnten bis dato Geld damit verdienen. Stattdessen erscheinen die alten Kerngeschäfte nach wie vor dominant, und eine durchgreifende Veränderung der Wertschöpfungskette, welche immer wieder vor­hergesagt wurde, bleibt nach wie vor aus.

Laut der Managementprofessoren Wendy Smith und Michael Tushman wurzelt der nachhaltige Erfolg eines Unternehmens in der Fähigkeit, sich simultan auf kurzfristige Effizienz und langfristige Innovations­leistung auszurichten. Diese Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Ziele ist für jede Unternehmensführung eine Herausforderung – für die Energiewirtschaft und alle unmittelbar von dieser Branche abhängigen Unternehmen wie Zulieferer, Lösungsanbieter und industrielle Großkunden scheint sie zu Beginn der neuen Dekade größer denn je zu sein.

Gerade von den Unternehmen in der Energiewirtschaft wird also in hohem Maße die Qualität der sogenannten „Ambidextrie“ eingefordert. Also der strategischen „Beidarmigkeit“, welche bestehende Geschäfte kontinuierlich entwickelt und sich gleichzei­tig auf grundlegende Veränderungen und neue Technologien einstellt. Eine derartige unternehmerische (aber auch geistige) Flexibilität setzt Veränderungen nicht nur in organisatorischen und personellen Struk­turen sondern auch in der Unternehmenskultur voraus – beginnend mit der Haltung von Aufsichtsräten und Geschäftsleitung.

Ob die neue Dekade schon den Umschlag in eine gänzlich veränderte Energiewelt bringen oder bis zum Jahr 2030 den Weg gradueller Veränderungen fortsetzen wird, wissen wir heute noch nicht. Umso wichtiger also, die Entwicklungen und Trends aufmerksam zu verfolgen, voneinander zu lernen, und die eigene „Beidarmigkeit“ konsequent zu stärken.