Deutschland und Europa müssen jetzt Fakten schaffen

Artikel aus dem Handelsblatt Journal „Energiewirtschaft“ vom 28.08.2023

von Markus Exenberger und Timo Bollerhey

Die bestehende Lücke zwischen den politischen Zielen für erneuerbaren Wasserstoff in Europa und dem aktuellen Stand des Marktes kann geschlossen werden.

Europa braucht dringend erneuerbaren Wasserstoff und seine Derivate, um die Klimaziele zu erreichen. Die EU ist zwar die Region mit den meisten Forschungsarbeiten zu erneuerbarem Wasserstoff und den meisten angemeldeten Patenten, aber die Umsetzung von Projekten zur Herstellung von erneuerbarem Wasserstoff (und seinen Derivaten) kommt nur sehr langsam voran.

Die Unsicherheit in Bezug auf den rechtlichen Rahmen für Projekte mit erneuerbarem Wasserstoff in Europa ist nach wie vor groß, während die Einführung des IRA (Inflation Reduction Act) in den USA zu zahlreichen Projekten mit erneuerbarem Wasserstoff und Investitionen in Elektrolyseur-Produktionskapazitäten geführt hat, und bereits vielfach wie ein Magnet für Projektentwickler und Fachkräfte wirkt. Europa verliert gerade seine Vorreiterrolle auf dem aufstrebenden Weltmarkt für erneuerbaren Wasserstoff. In den letzten sechs Monaten ist der europäische Anteil an den weltweiten Elektrolyseur-Projekten in der Frühphase von 63 % auf 56 % gesunken, und es wird erwartet, dass die USA Europa bis 2024 überholen werden.

Der Ausbau des Marktes für erneuerbaren Wasserstoff ist ein Schlüsselelement zur Erreichung der Klimaziele.

Aber gibt es überhaupt die Nachfrage, von der immer gesprochen wird?

Allein in Deutschland wird der zusätzliche Bedarf an erneuerbarem Wasserstoff, einschließlich Derivaten im Jahr 2030 voraussichtlich 56 bis 93 TWh erreichen. Über das Jahr 2030 hinaus wird der gesamte Wasserstoffbedarf in Deutschland bis 2045 auf 528 bis 1.364 TWh geschätzt.

…und wie soll dieser Bedarf gedeckt werden?

2023 beträgt die installierte Elektrolysekapazität in Deutschland bescheidene 100 MW. Die Bundesregierung hat das Ziel für die installierte Elektrolysekapazität von 5 auf 10 GW bis 2030 verdoppelt.

Neben der inländischen elektrolytischen Produktion wird Deutschland daher massiv auf die Einfuhr von erneuerbarem Wasserstoff und seinen Derivaten angewiesen sein. Deutschland wird allein bis 2030 zwischen 30 und 67 TWh Wasserstoff importieren müssen, wobei bis 2045 ein erheblicher weiterer Anstieg erforderlich ist. Dies erfordert etwa 12 bis 26 GW Elektrolysekapazität außerhalb Deutschlands, um die deutsche Importlücke im Jahr 2030 zu schließen.

Darüber hinaus ist eine zusätzliche Infrastruktur für die Umwandlung von Wasserstoff in Derivate, die Produktion von Rohstoffen für Derivate wie Stickstoff oder Kohlendioxid und den Transport einschließlich Schiffen, Häfen und Pipelines erforderlich.

Allein für Elektrolyseure, zur Deckung der deutschen Importlücke im Jahr 2030, werden Investitionen in Höhe von 11 bis 25 Mrd. EUR geschätzt. Weitere Investitionen für den Einsatz erneuerbarer Energien für die dedizierten deutschen Elektrolyseur-Kapazitäten werden auf etwa 17 bis 44 Mrd. EUR geschätzt.

Die gemachten Ausführungen stellen nur die deutsche Perspektive dar. Auf EU-Ebene ist das Ziel, 10 Mio. t erneuerbaren Wasserstoff im Inland zu produzieren und zu verbrauchen und 10 Mio. t aus Drittländern zu importieren, nicht weniger ambitioniert. Auf EU-Ebene wird der Investitionsbedarf auf 335 bis 471 Mrd. EUR geschätzt.

All diese Herausforderungen erreichen uns in einer Zeit zusätzlicher makroökonomischer Probleme und geopolitischer Spannungen. Staaten sind nicht mehr in der Lage, in großem Umfang zu fördern, oder sehen sich durch gesetzte gesetzliche Rahmenbedingungen dazu außerstande. Die massiven Kürzungen im bundesdeutschen Haushalt für das Jahr 2024 illustrieren das sehr anschaulich.

So kann der Weg in die Zukunft aussehen

Der Gedanke, Investitionsentscheidungen in der Erwartung aufzuschieben, von Kostensenkungen durch den Scale-up (z.B. in den USA) zu profitieren, birgt das erhebliche Risiko, den rechtzeitigen Markthochlauf in Europa weiter zu verzögern und den globalen Anschluss zu verlieren.

Vor dem Hintergrund langer Projektentwicklungszeiten und der Notwendigkeit, zusätzliche Kapazitäten für erneuerbare Energien aufzubauen, müssen die Investitionsentscheidungen kurzfristig, d. h. bis 2025, getroffen werden.

Die notwendigen Rahmenbedingungen für das Marktwachstum und die Entwicklung eines Marktes für erneuerbaren Wasserstoff müssen jetzt geschaffen werden

Die Investitionen, die für eine rasche Verbreitung der Wasserstoffwirtschaft erforderlich sind, sind durch sehr spezifische, kostspielige technologische Anlagen und langfristige Verpflichtungen gekennzeichnet. Ein großer Teil dieser Investitionen muss auf der Grundlage einer Bewertung der Marktrisiken erfolgen und wird von den Investoren getätigt, noch bevor Erträge realisiert werden können. Darüber hinaus bestehen zumindest zu Beginn des Aufbaus der Wasserstoffwirtschaft wechselseitige Abhängigkeiten zwischen Herstellern und Abnehmern von Wasserstoff und Wasserstoffderivaten, da es noch keinen globalen und liquiden Markt für diese Produkte gibt.

Um Risiken zu verringern und private Investitionen zu fördern, sind die folgenden Aspekte von grundlegender Bedeutung

Der Aufbau einer europäischen Wasserstoffwirtschaft ist eine komplexe Aufgabe. Die verschiedenen Aspekte der Produktion, der Speicherung, des Transports und des Verbrauchs von Wasserstoff sind voneinander abhängig und müssen koordiniert entwickelt werden, doch keiner von ihnen existiert derzeit in ausreichendem Umfang.

Dies führt zu einem klassischen „Henne-Ei-Problem“. Es wäre kostspielig und ineffizient, auf das Vorhandensein einer Infrastruktur für erneuerbaren Wasserstoff zu warten, bevor man einen darauf basierenden Markt aufbaut, und man würde die Lehren aus der bisherigen Entwicklung des Energiemarktes ignorieren.

Handelsplätze können eine entscheidende Rolle beim Aufbau eines Marktes bereits in einem frühen Stadium spielen. Im Falle von Wasserstoff und seinen Derivaten können Handelsplätze Käufern und Verkäufern eine Plattform für den standardisierten und transparenten Handel mit Wasserstoff bieten, was selbst bei einer geringen Anzahl von Akteuren und kleinen Volumina mehrere Vorteile mit sich bringt. Ein Handelsplatz kann einen transparenten Preisfindungsmechanismus bieten, einen fairen Marktpreis festlegen, einen liquiden Markt aufbauen, dazu beitragen, die Spezifikationen wie Nachhaltigkeitsanforderungen und vertragliche Spezifikationen des gehandelten erneuerbaren Wasserstoffs zu standardisieren und neue Investoren für diesen Markt zu gewinnen.

Ein weiteres Schlüsselelement für den Aufbau einer erneuerbaren Wasserstoffwirtschaft in Europa ist ein robustes und wirksames EU-Emissionshandelssystem (EU ETS) mit einem starken CO2-Preissignal. Es schafft Anreize für die Emittenten, ihre Emissionen zu reduzieren, und fördert Investitionen in die Produktion von erneuerbarem Wasserstoff und in die Infrastruktur sowie Innovationen im Bereich der erneuerbaren Wasserstoffproduktion und -technologien.

In Ermangelung eines weltweit harmonisierten Systems für die Anrechnung von Emissionseinsparungen und den Emissionshandel hat die EU den Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM) eingeführt, der im vierten Quartal 2023 in Kraft treten wird.

Neben einer wirksamen Bepreisung von Kohlenstoff ist die Festlegung klarer und präziser Nachhaltigkeitskriterien für erneuerbaren Wasserstoff und seine Derivate, die in den allgemeinen Rechtsrahmen eingebettet sind, von entscheidender Bedeutung.

Lehren lassen sich auch aus dem Aufbau der Gasmärkte ziehen

Langfristige Punkt-zu-Punkt-Verträge zwischen Erzeugern und Abnehmern von erneuerbarem Wasserstoff und Derivaten werden in den privaten Handelsbeziehungen eine wichtige Rolle bei der Ausweitung des globalen Marktes spielen. Sie minimieren die Investitionsrisiken, indem sie die Mengen- und Preisrisiken zwischen Erzeugern und Abnehmern aufteilen,  Preis- und Mengensicherheit bieten und somit klare und stabile Einnahmeströme gewährleisten. Diese Verträge waren oft starr und unflexibel und enthielten feste Preise und Mengen, was es neuen Marktteilnehmern erschwerte, in den Markt einzutreten. Diese Muster führten zu hohen Preisen und Wohlfahrtsverlusten. Darüber hinaus ließen langfristige Verträge keinen flexiblen Handel zu, was eine transparente Preisfindung und ein effizientes Funktionieren des Marktes behinderten.

Um Liquidität auf den Märkten zu schaffen, ist es notwendig flexiblere, kurzfristige Handelsvereinbarungen auf der Grundlage von Handelsplätzen wie Börsen, ergänzt durch außerbörsliche Transaktionen, zu schaffen.

Das Hauptaugenmerk muss auf der Stimulierung liquider Märkte liegen, die die Risikominderung erleichtern, Abnehmern, die ihren langfristigen Bedarf nicht quantifizieren können, Flexibilität bieten und neue Kunden zur Teilnahme am Markt für erneuerbaren Wasserstoff befähigen und gewinnen. Staatliche Unterstützung sollte sich auf die Bemühungen um die Schaffung eines liquiden Marktes für erneuerbaren Wasserstoff konzentrieren und Anreize für den Handel schaffen. Diese vielschichtigen Einblicke bilden das Fundament des jüngsten Positionspapiers, das wir gemeinsam mit der FAU Erlangen-Nürnberg, der EEX Leipzig und der OTH Regensburg veröffentlicht haben. Das vollständige Papier ist auf der H2Global-Website einsehbar.

Der Ausbau des Marktes für erneuerbaren Wasserstoff ist ein Schlüsselelement zur Erreichung der Klimaziele.

Markus Exenberger, Vorstandsvorsitzender, H2Global Stiftung
Timo Bollerhey, CEO, Hintco

Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „Energiewirtschaft“ erschienen.

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