
Artikel aus dem Handelsblatt Journal BANKING vom 07.09.2022
von Wiebke Merbeth
Nachhaltige Finanzmarktpolitik wird der Real- und Finanzwirtschaft finanziellen, personellen und strukturellen Aufwand abverlangen. Aber sie ist mittelfristig der einzig gangbare Weg, um stabil aufgestellt zu bleiben. Die Offenlegungs- und Transparenzverordnungen schenken dem Kapitalmarkt aktuell eine Komfortzone und der Kreditwirtschaft Blaupausen. Wirklich unbequem dürfte es in einigen Jahren werden, wenn Deinvestments drohen und keine oder nur teure Anschlussfinanzierungen folgen. Genau deshalb ist der aktive Dialog mit den Unternehmen so wichtig.
Die Diskussion um die Klimakrise, vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie auf ihrem Höhepunkt, wurde in den letzten Quartalen von anderen, zunächst scheinbar wichtigeren Themen verdrängt. Dabei ergänzen sich die Diskussionsthemen gegenseitig mehr, als man meint.
Unaufhaltsame Verschiebung der Werteverhältnisse Stakeholder fordern von Unternehmen immer stärker, Verantwortung zu übernehmen und diese in die vielschichtige Risikobetrachtung der Unternehmen zu integrieren. Finanzielle und soziale Ungerechtigkeiten, Verteilungsschieflage von Gütern und Mitbestimmung – für all das werden Real- und Finanzwirtschaft in die Verantwortung genommen. Hier setzen Corporate Governance Kodex, Dialogstrategien der nachhaltigen Kapitalanlage und Institutsvergütungsverordnung an.
Die Corona-Pandemie wirkte bei der Visualisierung des Gefälles der globalen medizinischen Versorgung als Verstärker und die soziale Taxonomie greift genau das auf: In der vertikalen Dimension werden Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von Geschäftsaktivitäten und Produkten erfragt. Klimawandel und Chancengleichheit sind zwei der wichtigsten Themen der grünen und der sozialen Taxonomie. Und es sind die Themen, denen sich Gremienvertreter stellen und an denen sie sich messen lassen müssen.
Die „Global 2022 Gen Z and Millennial“-Studie von Deloitte macht genau das deutlich: Neue Gleichgewichte müssen angestrebt werden, um die planetaren Grenzen anzuerkennen und langfristig den Fortbestand der Arten und der Unternehmen zu sichern. Das geht nicht ohne die Bereitschaft zur Transformation. Das Werteverständnis verschiebt sich – bei den Mitarbeitenden wie auch bei den Kund:innen. Der organisationskulturelle und intergenerationelle Konflikt wird sonst existenzgefährdend.
Alles eine Frage des Preises?
Die Definition des Preises inklusive des damit entstehenden Finanzrisikos umfasst mittlerweile auch das Klima. Und der Preis, den Unternehmen beim Verfehlen von Klimazielen zahlen, ist signifikant: Allein bei der deutschen Automobilindustrie lagen die Strafzahlungen 2021 im Milliardenbereich. Strengere CO2-Ziele werden ihre Wirkung nicht verfehlen, wenn signifikante Belastungen drohen. Nur so scheint es möglich, der reinen Gewinnmaximierungskonditionierung beizukommen: Es muss finanziell weh tun.
Doch führen nur Bestrafungsmechanismen zu einer Transformationsbereitschaft? Muss eine verantwortungsstarke Vollkostenrechnung teuer erzwungen werden? Hier geht es seit jeher um Zielkonflikte. Nur können wir diese – durch Offenlegungsverordnung, Lieferkettengesetz und dank Digitalisierung und Big Data – jetzt deutlich fundierter diskutieren und der Marktliberalität engere Standards entgegensetzen.
Die Reform des Deutschen Corporate Governance Kodex ist seit Juni 2022 in Kraft. Hierdurch sind ökologische und soziale Nachhaltigkeit bei der Leitung und Überwachung börsennotierter Unternehmen stärker zu berücksichtigen. Spätestens mit dieser Novellierung plädieren sogar Befürworter liberaler Märkte für mehr Standards. Ewigkeitsperspektive und Gemeinwohlorientierung erhalten ein neues Gewicht.
Auch die EU-Taxonomie taugt hier als Vorbild. Schließlich adaptieren nicht-europäische Produktanbieter, die ihre Finanzprodukte EU-regulierte Investoren verfügbar halten wollen, die Standards im Reporting ebenso wie nicht-europäische Unternehmen, die in EUFondsprodukten weiterhin nachgefragt werden wollen.
Das ESG-Zielmarktkonzept verdeutlicht: Detaillierte Umsatzgrenzen je Sektor und rote Linien pro kontroversem Geschäftsfeld ermöglichen eine hohe Kapitalanlagenflexibilität.
Transparente Vollkostenrechnung innerhalb der planetaren Grenzen
Ein Standardsetzer, der die Strahlkraft der EU-Taxonomie mit der Dynamik verknüpft, die die Rechnungslegung seit jeher durchlebt, könnte das International Sustainability Standards Board (ISSB) werden. Denn Realwirtschaft, Finanzmarkt und Regulierungsbehörden verlangen global kohärente Mindeststandards. Das ISSB geht den Weg, nachhaltigkeitsbezogene Informationen innerhalb eines Unternehmens und dessen Ökosystems zu berücksichtigen.
Verstanden wir unter Sustainable Finance 1.0 noch Nischeninvestments, mit denen einerseits Verantwortung übernommen wurde, sich aber andererseits nicht die Hände schmutzig gemacht werden sollten, so wird bei Sustainable Finance 2.0 die Überführung aus der Nische in den Mainstream erreicht. Bei Sustainable Finance 3.0 greifen einerseits die Wirkungsdiskussion und andererseits die Frage, wie wirkliche Veränderung erreicht werden kann.
Die Ausrichtung der Prioritäten verschiebt sich
In der Klimakrise werden diejenigen das Rennen machen, die sich bereits technologisch auf den Weg zur Klimaneutralität gemacht haben. Die Frage ist: Wie schnell kann ein Umbau auf Unternehmens-, Sektoren- und politischer Ebene als wettbewerbsstärkend verstanden werden? Der technologische und wissenschaftliche Kenntnisstand bietet der Diskussion um kontroverse Themen eine enorme Detailtiefe, wo Kilowattstunden, Wirkungsgrad und Lebenszyklus von Gütern abgewogen werden können.
Wir müssen am Kapitalmarkt nicht mehr wie früher ganze Sektoren ausschließen. Das ESG-Zielmarktkonzept, u. a. vom Fondsverband bvi auf den Weg gebracht, verdeutlicht: Detaillierte Umsatzgrenzen je Sektor und rote Linien pro kontroversem Geschäftsfeld ermöglichen eine hohe Flexibilität bei der Kapitalanlage. Für die Übergangsphase empfehlen sich Dialogstrategien als Chance für alle Stakeholder.
Die Konsequenzen von Untätigkeit und Trägheit müssen in jedem Teil der Wertschöpfungskette hinterfragt werden. Hat sich am liquiden Kapitalmarkt gerade in den letzten zwei Jahren gezeigt, wie aktive Stimmrechtsausübung zu einer Neuaufstellung der Gremien führen kann, so müssen die nächsten Jahre genutzt werden, transparenter die Fortschritte aufzuzeigen und nicht in die Timewashing-Spirale zu treten, nämlich sich mit ambitionierten Langfristzielen kurzfristig Verschnaufzeit erkaufen zu wollen. Dialogstrategien (Stewardship-Maßnahmen) umfassen Voting (Stimmrechtspolitik) und Engagement (aktiven Dialog mit den Stakeholdern).
Der Markt schenkt Bemühungen gerne seinen Glauben. Die daraus folgende Glaubwürdigkeit ist aber kein Geschenk, sondern eine Leihgabe, die bei zu viel Trägheit ebenso schmilzt wie die Gratifikation der Gremienvertreter.
Wichtiger als die Frage der Finanzierung wird die der Versicherbarkeit
Statt Malus-Politik zu betreiben, hat sich das luxemburgische Finanzministerium in diesem Sommer für einen Incentivierungsmechanismus entschieden: Publikumsfonds erhalten Erleichterungen auf die Zeichnungssteuer, wenn die Portfolios einen hohen Anteil EU-Taxonomiekonformer Anlagen ausweisen. Ein klares Signal, nachhaltige Fonds durch Steuererleichterungen noch attraktiver zu gestalten. Der Hebel wird beim Intermediär angesetzt.
Das kennt die Finanzindustrie. Haben sich Banken bisher als Bande der Regulatorik empfunden, die Realwirtschaft nachhaltiger auszugestalten, so ersetzen mittlerweile zwei andere Parteien die Rolle: Die Versicherer internalisieren Nachhaltigkeitsrisiken bereits auf einem Niveau, dass Versicherungsprämien die Profitabilität der Geschäftsaktivität langfristig hinterfragen lassen. Es wird damit irrelevant, ob Finanzierungen nötig sind. Denn wenn die Versicherbarkeit in Frage steht, gerät das Geschäftsmodell deutlich schneller ins Wanken. Zum anderen gewinnt die Abnehmerseite an Bedeutung, die ihrerseits eine Offenlegung von Nachhaltigkeitskennzahlen einfordert.
Fokussierung, Priorisierung und Positionierung
Um stabil aufgestellt zu bleiben, lohnen sich für Unternehmen Investitionen in exzellente Strategieprozesse. Anders ist der Mehraufwand in der Transformation kaum zu stemmen, denn zugleich müssen Mitarbeitende und Innovationsbereitschaft im Fokus und auf dem gewohnten Qualitätsniveau gehalten werden.
Dabei spielen auch Blended Finance und deren Skalierbarkeit sowie Venture Capital-Modelle eine maßgebliche Rolle: Hier werden Nachhaltigkeitsrisiken integriert und Wirkungsmechanismen etabliert, um Transparenz, Incentivierung und Transformation zu verstärken. Denn: Sich hier etwas zuzutrauen, sollte finanziell unterstützt und von Stakeholdern, Politik und Gesellschaft viel stärker gefördert werden, statt nur mit Regeln und Strafen eingehegt zu werden.
Realwirtschaft, Finanzmarkt und Regulierungsbehörden verlangen global kohärente Mindeststandards.
Wiebke Merbeth, Mitglied im Sustainable Finance-Beirat der Bundesregierung
Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „BANKING“ erschienen.
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