Jutta Maier
In einer Viertelstunde zur Arbeit, zum Einkaufen, zum Arzt oder in die Kita: In der Pandemie ist die Vision der 15-Minuten-Stadt aktueller denn je. Doch in gewachsenen Städten stellt die Idee Stadtplaner vor weitaus größere Herausforderungen als in Planstädten, wie sie in China am Reißbrett entstehen.
Nicht mehr als 15 Minuten von ihrer Haustür sollen die Pariserin Zukunft brauchen, um an ihr Ziel zu gelangen: Sei es zur Arbeit, zum Einkaufen, zum Arzt oder wenn sie ausgehen. So stellt sich zumindest Bürgermeisterin Anne Hidalgo die „La Ville Du Quart d’Heure“ vor, die mit ihrer Verkehrspolitik wie Pop-up-Radwegen und Verbrenner-Verbot bis 2030 für Schlagzeilen sorgt.
Dabei geht es weniger um CO2-Einsparung im Verkehr, sondern vor allem um die Lebensqualität der Anwohner: weniger Abgase und Lärm, und ein weiterer gesundheitlicher Nutzen durch mehr Rad- und Fußverkehr. Doch wie realistisch ist die Idee der 15-Minuten-Stadt, und kann sie mehr sein als eine griffige Formulierung, die in Coronazeiten den Nerv viele Menschen trifft? Schließlich arbeiteten viele Menschen mit Bürojobs seit Beginn der Pandemie zumindest teilweise im Homeoffice.
„Die 15-Minuten-Stadt ist ein Konzept, das zeigt, dass Stadt- und Verkehrsplanung zusammen gedacht werden können und sollten“, sagt Tilman Bracher, Leiter des Forschungsbereichs Mobilität am Deutschen Institut für Urbanistik (DifU) zu Tagesspiegel Background. Der Radius der Menschen habe sich durch Corona verkleinert, im jeweiligen Quartier seien viele Ziele häufig in weniger als 15 Minuten zu erreichen.
Wohnen und arbeiten rücken wieder zusammen
Auch für Martin Randelhoff, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Verkehrswesen und Verkehrsplanung der TU Dortmund, klingt die Idee der 15-Minuten-Stadt zunächst einmal gut. „Es ist ein relativ einfach zu verstehender Begriff für eine nutzungsdurchmischte, kompakte Stadtstruktur, in der Wohnen und Arbeiten wieder zusammenrücken und ich alle Versorgungselemente in meiner unmittelbaren Umgebung habe“, sagt der Herausgeber des Blogs „Zukunft Mobilität“.
Denn vor der Industrialisierung arbeiteten die Menschen in der Regel dort, wo sie auch lebten. Anfang des 20. Jahrhunderts kam es dann zur Trennung zwischen Arbeiten und Wohnen, um die Bevölkerung vor den schmutzigen Fabriken und den damit verbundenen Gesundheitsrisiken zu schützen.
Doch schon seit Jahrzehnten rücken Arbeitsplatz und Wohnort wieder zusammen, bedingt durch den Wandel von einer reinen Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, emissionsärmeren Produktionsformen und der Rückkehr der urbanen Produktion. „Insofern ist Corona nur ein Katalysator für eine Entwicklung, die es ohnehin schon gibt“, meint Randelhoff.
Die Idee einer Stadt der kurzen Wege findet sich schon seit den 2000er Jahren im Leitbild der europäischen Stadt, dort taucht immer wieder der Begriff der „Funktionsmischung“ auf. „Man möchte die historischen Strukturen von vor Industrialisierung zurück, die man heute maximal noch in Altstädten vorfindet“, sagt Randelhoff.
Bocholt hat Verkehr aufs Rad optimiert
In Deutschland existiert die 15-Minuten-Idee bereits in der Praxis: Die nordrhein-westfälische Stadt Bocholt hat ihren Verkehr aufs Fahrrad optimiert: Auf Distanzen von bis zu drei Kilometern sind die Fahrtzeiten mit dem Rad meist deutlich kürzer als mit dem Auto. „Das entspricht in etwa der zwölf- bis 15-Minuten-Stadt“, sagt Bracher.
Auf dem Weg dorthin setzte die Bochumer Stadtverwaltung auf Tempo-30-Zonen, Einbahnstraßen, die für Radfahrer in beide Richtungen befahrbar sind, Radwege an Hauptverkehrsstraßen sowie selbständige Rad- und Gehwege. Das Resultat: Der Anteil des Radverkehrs liegt in Bocholt bereits bei 39 Prozent – und soll weiter gesteigert werden.
Auch der Berliner S-Bahn-Ring entspricht in etwa der 15-Minuten-Stadt: Die S-Bahn braucht vom Westteil der Hauptstadt bis zur Friedrichstraße und von dort bis zum Ostkreuz jeweils eine Viertelstunde. „Da ist die 15-Minuten-Idee mehr oder weniger zufällig ins Netz gekommen“, vermutet Bracher.
Dennoch – dass die 15-Minuten-Stadt für mehr als eine Minderheit der Bevölkerung zur Realität werden könnte, ist zumindest fraglich. Denn noch ist beispielsweise unklar, ob sich der Homeoffice-Trend langfristig durchsetzen wird.
„Um etwas Neues zu implementieren, braucht man mindestens fünf bis zehn Jahre. Dann ist es ein stabiler Trend“, sagt Randelhoff. Wie auch Tilman Bracher vermutet er daher, dass es künftig eher Mischformen und mehr Vielfalt bei Lebensformen und Möglichkeiten geben wird.
Chengdu plant Satellitenstadt „Great City“
Zumal Stadtplaner in Europa meist innerhalb bereits gebauter Städten agieren müssen. Anders ist das in Planstädten, wie sie in China aus dem Boden schießen. So entsteht derzeit bei Chengdu die Satellitenstadt „Great City“, in der 80.000 Menschen leben sollen.
Ziel ist, dass sie jede Distanz innerhalb der Stadt zu Fuß in 15 Minuten zurücklegen und damit weitgehend auf Privatfahrzeuge verzichten können. An die Stadt Chengdu und das Umland wird die Satellitenstadt mit dem öffentlichen Nahverkehr angebunden.
Der Plan der US-Architekten Adrian Smith und Gordon Gill sieht einen Mix aus Wohnen, Geschäften, Bürogebäuden, „leichten“ Produktionsstätten und einem „Medizin-Campus“ vor. Kurze Wege spielen in der Great City generell eine große Rolle: Das Zentrum ist vom Stadtrand stets in zehn Minuten zu Fuß erreichbar, und nur die Hälfte der Straßenfläche ist für den motorisierten Verkehr vorgesehen. Außerdem liegen alle Wohneinheiten nur zwei Gehminuten von einem öffentlichen Park entfernt.
„Das ist eine klassische Planung am Reißbrett mit Quartieren, die durch Grünspangen voneinander abgetrennt sind“, sagt Randelhoff mit Blick auf die neuen chinesischen Städte. Die Menschen arbeiteten gezwungenermaßen im Quartier, weil die Arbeitsplätze entsprechend zugeordnet würden.
In Europa hingegen könne das 15-Minuten-Konzept immer nur ein Angebot sein – und sei davon abhängig, dass sich die „richtigen“ Anwohner in dem Quartier niederlassen, die Job und bestenfalls auch den Kindergarten in unmittelbarer Nähe haben.
Lebensrealität geht oft an 15-Minuten-Stadt vorbei
„Die Spezialisierung des Berufslebens und Fragen der Gleichberechtigung laufen aber eigentlich konträr dazu“, meint Randelhoff. Denn klassische Berufe wie Sekretärin oder Bankkaufmann, die man früher fast überall finden konnte, würden weniger. Und wenn beide Partner in einem Haushalt berufstätig sind, haben sie oftmals nicht den gleichen Arbeitsplatz oder die gleichen Wege zur Arbeit. Der Kompromiss ist dann oft ein Wohnort in der Mitte, bei dem beide womöglich je eine halbe Stunde pendeln.
Erst ein noch größerer Anteil von Robotik in Produktionsprozessen und ein Wegfall vieler Industriearbeitsplätze werde wahrscheinlich größere Umwälzungen in Gang setzen, so Randelhoff. Dennoch würden Menschen die 15-Minuten-Quartiere annehmen, wenn sie gut gemacht sind. Bereits jetzt wird beim Bau von größeren Quartieren mit Mischnutzung versucht, ein Zentrum zu schaffen mit Einzelhandel, sozialer Infrastruktur und der Möglichkeit für Coworkingspaces.
„Bei aktuellen städtebaulichen Wettbewerben spielen urbane Quartiere, die Verknüpfung von Wohnen und Arbeiten und flexible Produktionsstrukturen eine große Rolle“, sagt Randelhoff. Beispiele aus Berlin sind die „Urban Tech Republic“ auf dem Areal des bald geschlossenen Flughafen Tegel oder die Siemensstadt 2.0.
Neues Leitmotiv für Stadtplaner?
Bei Stadtplanern ist der neue Trend also schon angekommen. Doch am Markt scheint er noch nicht den entsprechenden Widerhall zu finden. „Investoren setzen lieber auf klassische Gewerbestruktur, weil die Mieterträge sicher und kalkulierbar sind“, sagt Randelhoff. Er kann sich aber vorstellen, dass moderne Mischquartiere durch die Coronapandemie einen Schub bekommen, weil die großen Immobilieninvestoren und Projektentwickler sehen, dass sich Nachfrage und damit auch Zahlungsbereitschaft entwickelt.
Für Tilman Bracher ist klar, dass die 15-Minuten-Stadt zum Leitmotiv für Stadt- und Verkehrsplaner werden sollte, damit Gewerbe- und Wohngebiete nicht zu weit draußen angesiedelt werden. Nicht nur beim Neubau, sondern auch beim Recycling von Quartieren – etwa, wenn eine Industrie aufgibt – sieht er viele Chancen für die Umsetzung.