Sumoringer auf dem Tanzparkett

von Prof. Lutz Fügener

Vor genau dreißig Jahren standen buchstäblich dunkle Wolken am Himmel der automobilen  Welt. Was sich ankündigte, war ein Bruchpunkt: Die westlichen Märkte galten als gesättigt. Die sich in Phänomenen wie Dauerstaus oder akuter Parkplatznot äußernden Verkehrsprobleme stellten nach einer langen Periode des unkritischpositivistischen Blicks auf das Automobil nun dieses als universelles Transportmittel in Frage. Dazu waren die Zahlen der im Autoverkehr zu beklagenden Unfalltoten immens, Benzinkrisen indizierten eine beunruhigende Abhängigkeit vom Öl und die Umwelt war in denkbar schlechtem Zustand.

Verantwortliche in Führungspositionen der Automobilhersteller erkannten Handlungsbedarf, um das Heft des Handelns nicht den aus einem gesellschaftlichen und daraus resultierenden politischen Druck entspringenden Regulierungsinitiativen zu überlassen. Denkfabriken wie der Club of Rome wurden beauftragt, Ansätze für Auswege aus den multiplen Dilemmata aufzuzeigen. Ein „weiter so!“ erschien nur wenigen als möglich. Das Weltgeschehen und die daraus resultierenden geopolitischen Veränderungen am Beginn der Neunziger verschafften der Automobilwirtschaft der westlichen Welt jedoch einen nicht voraussehbaren und willkommenen Aufschub bei der Lösung dieser Konfliktlage. Sie zerschlugen den Gordischen Knoten, der sich in der beschriebenen Situation durch ein typisches Merkmal der Automobilwirtschaft gebildet hatte: ihre systembedingte Unfähigkeit zu schnellen Richtungswechseln; die Trägheit des Systems. Die sich nach dem Zusammenbruch der beiden Weltsysteme schnell bildenden, neuen und in ihrer Konsumkraft rasant wachsenden Märkte im Osten verlangten genau die konservativen Automobile, deren massenhafter Einsatz den Individualverkehr in der westlichen Welt vorher an die oben beschriebenen Anschläge gebracht hatte. Es liegt in der Natur des Prozesses der Entwicklung, Herstellung und Vermarktung von Automobilen, dass jeder plötzliche, gesellschaftliche Richtungswechsel eine Gefahr für Gleichlauf und grundsätzliche Durchführbarkeit der geplanten Abläufe darstellen kann. Autohersteller haben die Gewandtheit von Sumoringern – schnelle Tanzschritte sind ihnen ein Greul. Seien es die Änderung von Preis und Verfügbarkeit von Rohstoffen, politisch motivierte Novellierung von internationalen und nationalen Handels-, Verkehrs- und Umweltgesetzgebungen, aber auch Wandlungen von Einstellungen in den Köpfen der Verbraucher, deren Reaktionen auf unvorhersehbare Ereignisse in Natur und Politik und nicht zuletzt schnell wechselnde Trends in für die Konsumwirtschaft relevanten Bereichen von Alltagskultur wie Mode und Freizeitverhalten. Zwar ist das Automobil ein Produkt von großer Langlebigkeit; unterliegt jedoch auch Moden und dem damit einhergehenden ideellen Verschleiß. In unserer Überflussgesellschaft werden Automobile wie viele andere Konsumgüter auch in der Regel nicht erst dann ersetzt, wenn sie funktional eine mechanische Verschleißgrenze erreicht haben. Wie im Bereich der Bekleidung existiert beim Kunden eine latente Erwartung an neue Produkte in Bezug auf Steigerung der Qualität und Funktionalität, wobei letztere mit den klassischen Transportfunktionen des Automobils nur unzureichend erklärt wäre. Für die Neuentwicklung eines Automobils veranschlagt man einen Zeitraum von ca. fünf Jahren. Baukastensysteme ermöglichen zwar, diesen Vorgang zu raffen, doch die gültigen Dimensionen sind genanntem Zeitraum gut umrissen. Das Design und somit der vom Kunden im Prozess der Kaufentscheidung vornehmlich wahrgenommene Anteil der Fahrzeugentwicklung muss dabei ca. zwanzig Monate nach dem Entwicklungsstart „eingefroren“ werden, was bedeutet, dass von der Fixierung des Designmodells bis zur Präsentation des fertigen Produkts in der Regel drei Jahre ins Land gehen. Die Erfahrung und Erwartungen der Kunden in Bezug auf Innovationen können von diesem Zyklus jedoch dramatisch abweichen, da der Takt – anders als noch vor dreißig Jahren – mehr und mehr von anderen Branchen vorgegeben wird. Exemplarisch für diese neuen, taktgebenden Player ist die Unterhaltungs- und Kommunikationsindustrie.

„Bei den Händlern steht heute das eine oder andere Automobil, welches für eine Welt konzipiert, entworfen und hergestellt wurde, die heute nicht mehr existiert.“

Das Dilemma der etablierten Automobilhersteller illustriert sich an einem Vergleich zwischen dem für die gesellschaftliche Entwicklung derzeit immens wichtigen Produkt Smartphone und dem Automobil: legt man die fünfjährige Entwicklungszeit und eine – für Kernprodukte durchaus realistische – Verweilzeit auf dem Markt von sieben Jahren zu Grunde, dann kommen wir zur bemerkenswerten Erkenntnis, dass bei den Autohändlern derzeit noch als Neuware steht, deren Entwicklung zu einer Zeit stattgefunden hat, in der es noch kein Smartphone gab und dieses als kommendes Produkt auch nicht voraussehbar war. Das iPhone feiert heute gerade mal zehnten Geburtstag. Pointiert ausgedrückt steht bei den Händlern heute das eine oder andere Automobil, welches für eine Welt konzipiert, entworfen und hergestellt wurde, die heute nicht mehr existiert. Auffrischungen wie die sogenannten Facelifts und Renovierungen an Interieur und Ausstattung und natürlich aufwändige Vermarkungs- und Werbestrategien werden angewandt, um dieses Manko auszugleichen. Funktioniert das nicht, müssen die Fahrzeuge mit Preisnachlässen und den resultierenden Verlusten verkauft oder vor dem geplanten Zeitpunkt aus der Produktion genommen werden. Doch die Anforderungen der Zukunft gehen über die Probleme einer rasanten Produktfrequenz anderer Konsumbranchen weit hinaus. Es zeichnet sich ab, dass wir die eingangs beschriebenen Anschläge in Bezug auf Verkehr und Umwelt wieder erreichen bzw. erreicht haben – diesmal jedoch weltweit. Das sich derzeit noch nicht entwickelte bzw. in der Entwicklung befindliche Ökonomien in der Größe eines Kontinents wie Afrika in den nächsten Jahren mit derselben Rasanz entwickeln werden, wie es allein China in den vergangenen zwei Jahrzehnten vorgemacht hat, wäre zwar auch und nicht zuletzt im Interesse der dortigen Bevölkerung wünschenswert, ist jedoch leider nicht zu erwarten. So scheint es als sicher, dass sich die individuelle Mobilität in den kommenden Jahrzehnten weitaus tiefgreifender ändern muss, als sie es in den letzten getan hat. Oder anders formuliert: der durch die Bedienung der schnell wachsenden Märkte im Osten mit konservativen Fahrzeugen entstandene Aufschub für die Entwicklung neuer, systemrelevanter Konzepte hat tektonische Spannungen aufgebaut, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in Geschwindigkeiten lösen wird, welche Automobilhersteller bereits jetzt aus ihrer Komfortzone geworfen haben oder es noch tun werden. Für einen traditionell operierenden Automobilhersteller ist es schlichtweg nicht möglich, per Dekret einen grundlegenden und radikalen Technologiewechsel in Angriff zu nehmen. Sogar die Verkündung der Absicht für einen solchen Wechsel kann bereits zu gefährlichen Situationen führen – lässt sie doch beim Kunden im Umkehrschluss die noch in den Verkaufshäusern stehenden Produkte von einem Tag auf den anderen buchstäblich alt aussehen. Die Rede des Vorstandsvorsitzenden der Volkswagen AG Matthias Müller am Vorabend der diesjährigen IAA in Frankfurt mit den in ihr enthaltenen, konkreten und ehrgeizigen Planzielen in Sachen Elektromobilität und Automatisierung kann deshalb als dramatischer Absprung in die Zukunft unter Inkaufnahme einiger, derzeit schwer kalkulierbarer Risiken gewertet werden. Der Mut dieses Vorgehens generiert sich hier offenbar aus verschiedenen und sehr unterschiedlichen Quellen: der ohnehin durch den Abgasskandal entstandene Handlungs- und Veränderungsdruck, die Erkenntnisse und Schlussfolgerungen aus neuen Phänomen in der automobilen Welt – allen voran Tesla – und nicht zuletzt die Überlegung, dass der rechtzeitige Absprung des Unternehmens bei Einsatz der vorhandenen, enormen Potenziale an Knowhow und im Unternehmen vorhandenen Entwicklungskapazitäten neben den angestrebten, neuen Produkten auch eine wertvolle Führungsposition bei der Gestaltung von den Quasi-Standards der zukünftigen Verkehrssysteme ermöglichen. Denn das Bild des Zukunftsautos bzw. des zukünftigen  Mobilitätswerkzeugs ist längst noch nicht fixiert. Sogar der derzeitige Elektrofahrzeug-Primus  Tesla musste aus Gründen der Besonderheiten bei der Vermarktung seines konkurrenzlosen Produkts eine Kröte schlucken, die ihm mehr und mehr zu schaffen machen wird: Das Design und die Konzeptionen der Fahrzeuge des Unternehmens beziehen sich weit mehr auf das Bild des traditionellen Automobils mit Verbrennungsmotor, als sie es bei ihrem hochvariablen technischen Layout müssten. Tesla sah sich als Pionier in der Situation, seinen Produkten die vom Kunden intuitiv lesbare Grundaussage mitzugeben, dass es sich hier um ein „ganz normales Auto“ handelt. Man versuchte aus nachvollziehbaren Gründen, die Berührungsängste mit dieser neuen Technologie zu minimieren und so die Bereitschaft zum doch erheblichen privaten Investments zum Kauf eines Tesla zu erhöhen. Das hat zwar funktioniert, verschafft den Produkten des Unternehmens in ihrer äußeren Erscheinung jedoch eine derart rückwärtsgewandte Grundaussage, dass sie Gefahr läuft, bei Erscheinen von Konkurrenzprodukten mit ähnlichen oder gleichwertigen Leistungsdaten zunehmend als gestrig wahrgenommen zu werden. Und genau diesen Plan hat Müller auf dem Volkswagen-Konzernabend ausgebreitet. Die Elektrifizierung der Antriebe an sich ist nicht sonderlich komplex oder gar geheimnisvoll und ihr Erfolg hängt maßgeblich von der Verfügbarkeit und Qualität der Stromspeicher ab. So ist zu erwarten, dass auf lange Sicht ein hoher Standard in Fahrzeugqualität, Innovationsgrad und Produktionsorganisation auch wieder die Trümpfe bei der Massenproduktion werden. BMW ist mit seinen I-Modellen in dieser Hinsicht bereits mit Weitsicht vorausgegangen und nun recht gut dafür aufgestellt, einen losgetretenen Paradigmenwechsel abzufangen und vielleicht auch mit zu gestalten. Sollte VW wirklich ernst machen und das angekündigte Programm tatsächlich durchhalten, dürfte es jedoch für den einen oder anderen Mitbewerber bereits jetzt zu spät sein.

„ Wer den Aufbruch verpasst und nur Schäfchen zählt, den wird dann wohl der Wolf holen.“

Wie man sich im VW-Konzern den Weg in die Zukunft vorstellt hat man auf der IAA anhand des Audi Aicon bereits sehen können. Zwar offerieren mehrere Hersteller Konzepte zu den Themenkomplexen Elektrifizierung und Automatisierung, doch scheint der Aicon auf den zweiten Blick mehr als ein Konzeptauto zu sein. Bemerkenswert ist, dass der Konzern das Thema mit diesem Entwurf an einer Stelle anpackt, die zu den deutlich unbequemen gehört, da sich Audi derzeit als stark fahrerorientierte, sportliche Marke definiert. Ein vollelektrisches Langstreckenfahrzeug ohne Lenkrad und Pedale steht dem lange gepflegten Markenimage somit diametral entgegen. Zwar annonciert man den Aicon als ersten Vertreter einer neuen Produktpalette, die in anderen, noch ausstehenden Erscheinungsformen auch die Urwerte der Marke wieder thematisieren, doch hat man sich dagegen entschieden, sich den Absprung in die Zukunft mit einem genau dieser Vertreter etwas komfortabler zu gestalten. Wenn sich jetzt die Leittiere der Automobilhersteller in Bewegung setzen, wird auf kurz oder lang die gesamte Herde folgen müssen. Wer den Aufbruch verpasst und nur Schäfchen zählt, den wird dann wohl der Wolf holen.

FuegenerProf. Lutz Fügener
Professor für Transport und Design
Hochschule Pforzheim

Dieser Beitrag ist Teil der Ausgabe des Handelsblatt Journals „Transformation now!“ das Sie hier  erhalten können.

 

 

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