Mit E-Mobilität von Null auf Hundert: Zukunft made in Germany? Nur wenn wir auf die Tube drücken!

Claudia Kemfert

von Claudia Kemfert

Schon um die Jahrtausendwende versprach die Autoindustrie neue Antriebstechnologien, allen voran die Brennstoffzelle, die mittelfristig die Emissionen der klassischen Schadstoffe im Automobilverkehr von selbst erledigen. Zwei Jahrzehnte später kann davon keine Rede sein. Zwischenzeitlich sah die Industrie die Schuld beim Verbraucher, der nicht bereit sei die höheren Preise für umweltschonende Fahrzeuge zu bezahlen.

Im Sommer 2016 wurde deswegen in Deutschland eine Kaufprämie („Umweltbonus“) für reine Elektro-, PlugIn-Hybrid- und Brennstoffzellenautos eingeführt, um den Absatz von Elektrofahrzeugen anzukurbeln. Die Bundesregierung verfolgte ein – offen gesagt, wenig ehrgeiziges – Ziel: eine Million E-Autos bis 2020. Ergebnis: 2018 wurden in Deutschland 68.000 Elektroautos neu zugelassen. Der Anteil an den Neuzulassungen beträgt, magere 1,x Prozent.
Zukunft made in Germany? So, sicher nicht. Schon 2008 habe ich in meinem Buch „Die andere Klimazukunft“ empfohlen, auf Innovation zu setzen. Denn auf unserem Weg in eine kohlenstoffarme Wirtschaft liegen großartige Chancen. Wir müssen sie nur nutzen – und endlich anpacken.

Die Zeit drängt, nicht nur weil wir mit Höchstgeschwindigkeit auf irreversible Klimaschäden zu rasen. Den Kavalierstart an der letzten Kreuzung hat nämlich China hingelegt und entwickelt sich gerade zum globalen Taktgeber der E-Mobilität. Dabei hat das Reich der Mitte erst 1979 begonnen, sich für neue Wirtschaftsformen und eine liberalere Wirtschaftspolitik zu öffnen. Längst ist es der größte Automarkt der Welt, doch aus dem Autoland Deutschland kommen vor allem veraltete Verbrennungsmotoren. Dabei wurden 2018 in China bereits 1,27 Millionen E-Autos zugelassen, Marktanteil von inzwischen 4,6 Prozent.
Deutschland droht nicht nur, seinen einstigen Platz als Klimaschutz-Vorreiter zu verlieren, sondern auch in der deutschen Lieblingsdisziplin Mobilität bald als Industrie-Verlierer dazustehen. Wir sollten also auf die Tube drücken, wenn wir mit E-Mobilität von Null auf Hundert kommen wollen.

So schwer es Industrieunternehmen in Zeiten kurzfristiger Börsenzyklen fallen mag, die Herausforderung ist klipp und klar: Wir müssen schnell und entschlossen umsteuern, auch wenn wir die positiven Ergebnisse vielleicht erst in einigen Jahren spüren werden. Denn Klimaschutz und nachhaltige Wirtschaft funktionieren wie ein Bausparvertrag: Wenn wir morgen davon profitieren wollen, müssen wir heute beginnen, Geld anzulegen.

Aus Sicht der Industrie geht es derzeit vor allem um die Frage neuer Antriebstechniken. Die oftmals geforderte „Technologieoffenheit“ ist dabei in der Praxis eher hinderlich. Denn für die Umstellung von fossilen auf erneuerbare Antriebsstoffe braucht es eine adäquate Infrastruktur, die möglichst schnell errichtet werden muss. Eine flächendeckende Versorgung mit „Tankstellen“ für jede mögliche Technologie wäre aber extrem kostspielig und ineffizient. Deswegen gilt es hier, schnell eine Entscheidung zu treffen, die auch der Industrie möglichst früh Klarheit über Investitionsrisiken und Planungssicherheit gibt.
Die bisherigen Regulierungen werden sicher grundlegend reformiert: So ist davon auszugehen, dass die wettbewerbsverzerrenden Privilegien des Verbrennungsmotors, vor allem die indirekten Subventionen des umweltschädlichsten Treibstoff Diesel sehr bald abgeschafft werden. Der Straßenverkehr ist derzeit für etwa ein Fünftel der Treibhausgasemissionen Deutschlands verantwortlich, trägt – schlimmer noch – wesentlich zur Feinstaubbelastung bei und hat als Hauptemittent von anthropogenen Stickstoffoxiden (NOx) fatale gesundheitliche Folgen. Schon jetzt kommt es immer öfter zu Fahrverboten in den Städten, weil der zulässige Jahresbelastungshöchstwert vielerorts überschritten wird. Deswegen sind eine blaue Plakette zur Kennzeichnung aller Emissionen sowie deutlich schärfere EU-Grenzwerte für Neuwagen zu erwarten.

Im Zentrum des künftigen Energiesystems werden die erneuerbaren Energien stehen. Deswegen ist eine direkte Elektrifizierung großer Teile des Verkehrs technologisch und wirtschaftlich effizient. Der Zubau der dafür notwendigen Anlagen ist zudem in kurzer Zeit realisierbar. Auch der Güterverkehr kann mit elektrischen LKWs oder auf der Schiene abgewickelt werden. Für lange Distanzen – insbesondere im Schiffsverkehr – bieten sich flüssige Treibstoffe an, die aus erneuerbaren Energien gewonnen werden, beispielsweise Power to Gas oder Wasserstoff. Allerdings ist von einem großflächige Einsatz solcher Treibstoffe in allen Verkehrsbereichen dringend abzuraten, weil etwa für die Herstellung von Power to Gas bis zu siebenmal soviel erneuerbare Energie aufgebracht werden muss.
Der Markt für Elektroautos wird sich in den nächsten Jahren erheblich entwickeln. Norwegen macht vor, wie man den Anteil der Elektroautos in kürzester Zeit auf nahezu 50 Prozent erhöht – durch gezielte steuerliche und administrative Förderung. Die Automobilindustrie sollte sich darauf einstellen, dass eine Elektrofahrzeugquote von 25 Prozent aller neu zugelassener Fahrzeuge ab dem Jahr 2025 und 50 Prozent ab 2030 eingeführt wird, um die Marktdurchdringung schneller voranbringen.

E-Mobilität hätte nämlich über Dekarbonisierung des Straßenverkehrs hinaus hinaus einen interessanten positiven Nebeneffekt: Auto-Batterien können als Speicher im dezentralen Netz der allgemeinen Stromversorgung zur Entlastung beitragen.
Deswegen ist es sinnvoll, dass die deutsche Bundesregierung aktuell versucht, Batteriezellenfertigung in Europa und Deutschland erleichtern. Deutsche Batterie-Hersteller haben ihren einstigen Wettbewerbsvorteil an Asien verloren. Deutschland muss sich gemeinsam mit den anderen EU-Ländern gegen das Rohstoffmonopol aus China durchsetzen und sich nicht zu abhängig von wenigen Lieferanten machen. Aber: eine eigene Batterieproduktion zu unterstützen, ist nur dann sinnvoll, wenn dadurch eine faire und nachhaltige Rohstoffgewinnung ermöglicht und garantiert wird – verbunden mit dem Aufbau von Recyclingsystemen. Deutschland sollte sich deswegen zwingend für hohe Umwelt- und Sozialstandards bei der Rohstoffgewinnung einsetzen. Nur das wird langfristig die Wettbewerbsfähigkeit gewährleisten.
Doch es nicht damit getan, den Motor von 45 Millionen Autos auszutauschen und daraus Elektroautos zu machen. Denn die angeblichen Fahrzeuge sind in Wahrheit „Stau- und Stehzeuge“. Fakt ist: 90 % aller Fahrzeuge stehen 23 Stunden am Tag herum. 70% aller Fahrten sind kürzer als zwanzig Kilometer, jede zweite Fahrt sogar kürzer als fünf Kilometer. Und durchschnittlich hatten wir im vergangenen Jahr in Deutschland 2.000 Staus am Tag, wie der ADAC ins seinem jährlichen Staubericht festhielt. Und die Stehzeuge rauben wertvollen Platz: Ausgerechnet in kleineren Städten ist die Parkplatzdichte extrem hoch. Angesichts steigender Mietpreise, in denen um jeden Quadratmeter Wohnfläche gerungen wird, sind „autogerechte Städte“ vollkommen aus der Zeit gefallen.

Die negativen Auswirkungen des Autoverkehrs auf Klima, Gesundheit, Lebensqualität und Wohnpreise erfordern eine menschengerechte Verkehrswende. Verkehrspolitik ist keine technologische Frage, sondern stellt auch medizinische, soziale und ökonomische Anforderungen, die in der Komplexität vernünftige und angemessene Entscheidungen erfordern. Darin liegt eine große Chance – auch angesichts der wachsenden Bedeutung des Weltmarkts für den Exportweltmeister Deutschland. Die wirtschaftlichen Chancen einer nachhaltigen Mobilität sind für die deutsche Wirtschaft enorm.

Individuelle Mobilität bedeutet nicht zwangsläufig ein eigenes Auto. Auch heute besitzt zwar jeder zweite Deutschen einen eigenen Pkw und jeder fünfte sogar zwei. Doch natürlich ist es unsinnig, dass man zwei Tonnen Stahl bewegt, um eine Person von siebzig Kilogramm einige wenige Kilometer zu transportieren. Mobilität gibt es auch ohne motorisiertes Fahrzeug. Das erfordert allerdings die Stärkung intelligenter und integrierter Mobilitätslösungen.
Nachhaltige „Mobilitätsdienstleistungen“ wie Carsharing werden gerade in Ballungsräumen an Bedeutung gewinnen. Dabei wird auch die Digitalisierung eine zentrale Rolle spielt, da zukünftig immer mehr Mobilitätsanbieter vernetzt sein werden. Durch autonomes Fahren wird es zunehmend leichter und günstiger sein, flexibles „Ride Hailing“ zum Einsatz zu bringen: Chauffieren ohne Chauffeur, und zwar „on demand“.

Digital gestaltete Mobilitätsangebote werden mit Hilfe künstlicher Intelligenz nicht nur die Emission von Treibhausgasen und den Energieverbrauch berücksichtigen, sondern auch Flächenverbrauch, Lärm und Unfallrisiken der jeweiligen Verkehrsmittel. Durch eine enge Verzahnung von Öffentlichem Personennahverkehr, Carsharing, „Ride Hailing“, also Fahrdienste wie Uber oder DiDi und natürlich auch mit dem Fahrrad entstehen individuelle Mobilitätsdienstleistungen. Das – und nicht irgendein Automobil 2.0 – ist die Zukunft der Verkehrstechnik!

Über Claudia Kemfert

Prof. Dr. Claudia Kemfert leitet seit 2004 die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und ist seit 2009 Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit an der Hertie School of Governance (HSoG). Von 2004 bis 2009 hatte sie eine Professur für Umweltökonomie an der Humboldt-Universität inne.
2016 wurde Claudia Kemfert in den Sachverständigenrat für Umweltfragen beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit berufen. Sie war Beraterin von EU Präsident José Manuel Barroso und ist in Beiräten verschiedener Forschungsinstitutionen sowie Bundes- und Landesministerien sowie der EU Kommission tätig.