Alles neu und Altes besser? | #HBEnergie-Expertenbeitrag von Prof. Dr. Marc Oliver Bettzüge

Prof. Dr. Marc Oliver Bettzüge, Direktor, ewi Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln

von Prof. Dr. Marc Oliver Bettzüge

Strategische Prioritäten für die Energiewirtschaft

Die deutsche Energiewirtschaft steht im Zeichen erheblicher Veränderung. Der Fachbegriff der „disruptiven Innovation“ ist als Schlagwort in aller Munde, und eine große Unruhe hat die Branche erfasst.

Konkret beobachtbar ist der Einbruch des Erzeugungsgeschäfts in den vergangenen Jahren. Der Schock über die plötzlichen und nachhaltigen Verluste in der Erzeugung verbindet sich mit Analogieschlüssen zu digitalen Umwälzungen in anderen Branchen sowie mit ehrgeizigen „Energiewende“-Zielen zu einem mächtigen Narrativ rascher und tief greifender Veränderung. Doch jeder der drei genannten Trends gehorcht anderen Gesetzmäßigkeiten und verläuft auf unterschiedlichen Zeitskalen.

Die Veränderungen bei der konventionellen Erzeugung, erstens, sind keine Folge „disruptiver“ Innovation, sondern das wenig überraschende Ergebnis von Überkapazität (bei gegenläufig wirkenden staatlichen Eingriffen: EE, KKW, Kohle). Abschwünge dieser Art sind Kennzeichen vieler kapitalintensiver Industrien. Besonders bitter ist die Pille für die Energiewirtschaft, weil kurzfristig eine Erholung der Großhandelspreise wenig wahrscheinlich ist, und weil langfristig viele Bestandskraftwerke aufgrund politischer Zielsetzungen zum Klimaschutz sowie der Veränderungen in der Struktur der Residuallast gefährdet erscheinen.

Die Digitalisierung, zweitens, ist wie in anderen Branchen auch in der Energiewirtschaft ein wichtiger Treiber von Veränderung. Besonders sichtbar ist ihre Rolle heute bereits in den Vertriebsund Abwicklungsprozessen. Auch gibt es eine Vielzahl digital gestützter neuer Dienstleistungsangebote. Anders jedoch als in anderen Branchen sind „disruptive“ digitale Geschäftsmodelle in der Praxis bislang nicht zu erkennen. Digitalisierung erscheint für die Branche derzeit eher als evolutorische Technologie, welche bestehende Prozesse und Dienstleistungen optimiert. Die zeitgemäße Beherrschung dieser Technologie stellt allerdings die meisten Unternehmen in der Energiewirtschaft vor erhebliche Herausforderungen. Die schnelle Skalierung von Prozessen ist von wachsender Bedeutung, und viele Unternehmen werden dauerhaft wohl nur mit Hilfe von Kooperationen oder externen Dienstleistern ausreichend leistungsfähig bleiben können.

Die „Energiewende“-Ziele für die CO2-Minderung werden, drittens, nur mit radikalen Veränderungen bei Energienutzung und
-bereitstellung erreichbar sein. Stichwörter sind beispielsweise Photovoltaik mit Speicher, E-Mobilität oder Strom-Wärme-Kopplung. Viele Unternehmen versuchen vorauseilend, und meist ohne großen wirtschaftlichen Erfolg, entsprechende Technologien zu vermarkten. Faktisch sind viele dieser Technologien aber heute noch staatlich geschützte Nischenprodukte. „Disruptiv“ würden sie erst dann, wenn sie eine Nische auch ohne den Staat besetzten und von dort aus den gesamten früheren Markt obsolet machten. Welche dieser Technologien „disruptive“ Qualität entfalten werden, und ob und wann dies geschehen wird, ist derzeit kaum abzusehen. Manche (z.B. E-Mobilität?) vielleicht früher als andere (z.B. PV mit Speicher?). Kritisch, und offen, ist dabei vor allem die optimale Konfiguration der diversen Infrastrukturen im Zeitverlauf, insbesondere Strom (inklusive E-Mobil-Lade), Gas (inklusive Wasserstoff) und Wärme.

Zur technologischen Unsicherheit kommt die politische, da es der Staat bis dato offenlässt, auf welche Art und Weise er die gesteckten Ziele für die CO2-Minderung umsetzen will. Insbesondere fehlt ein technologieneutraler, wettbewerblicher Ansatz, um effiziente „Energiewende“-Innovationen marktbasiert von ineffizienten zu unterscheiden. Viele gute Ideen beispielsweise in der Strom- Wärme-Integration werden erfolglos bleiben, olange aufgrund staatlicher Regulierung elektrische Arbeit weit über ihren Kosten verkauft wird – und elektrische Leistung weit darunter.

Insgesamt leidet die Branche derzeit also (noch?) nicht unter dem Wettbewerb „disruptiver“ Innovationen. Stattdessen kämpft sie mit den Folgen eines (nicht ganz verzerrungsfreien) Wettbewerbs – und bereitet sich gleichzeitig auf ein abstraktes gesellschaftliches Wunschbild für die fernere Zukunft vor, dessen konkrete Umsetzung bei weitem noch nicht zu Ende durchdacht ist.

Strategisch ergeben sich daraus zwei prioritäre Handlungsfelder: erstens, eine konsequente Steigerung der Leistungsfähigkeit in den Kerngeschäften, vor allem bei Prozessen und IT; und zweitens, ein konstruktiver, datenbasierter Dialog mit Politik und Gesellschaft über die „Energiewende“- Ziele und die besten Rahmenbedingungen, um diese zu erreichen.

Über den Autor:

Prof. Dr. Marc Oliver Bettzüge Prof. Dr. Marc Oliver Bettzüge, Direktor, ewi Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln.


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